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25.03.2017

Das Sanatorium - Kapitel 12


So schnell wie möglich wollen Acy und die anderen dem Sanatorium entkommen. Noch ist es allerdings nicht vorbei und auch der Campingplatz bietet nicht die erhoffte Sicherheit.

von Christian Dolle

Kapitel 12 - Rückzug ins Ungewisse

Auf ihrem Weg zurück zum Campingplatz sah Acy sich alle paar Schritte um. Schon dass sie ungesehen entkommen waren, erschien ihr als unglaubliches Glück, dass die Männer sie nicht verfolgten umso mehr. Gideon stützte Sarah, Meena und sie trugen die Kameraausrüstung. Im Falle einer Verfolgung hätten sie keine Chance gehabt, sie waren einfach zu langsam. Noch dazu hatten die Typen ihren Lieferwagen, mit dem sie sie noch schneller einholen könnten. Also lauschte sie auch auf jedes Geräusch, bereit, sich sofort im Gestrüpp am Wegrand zu verstecken.

Allerdings waren die Schritte der anderen und die typischen Geräusche des Waldes das einzige, was sie hörte. Ab und zu knackte es irgendwo im Unterholz oder der Schrei einer Eule durchdrang die Nacht. Wären sie alle auf dem Campingplatz geblieben, hätte es so friedlich sein können. Dabei machte Acy sich die größten Sorgen nicht einmal um sich, sondern um Kim und Nico, die noch immer irgendwo dort oben waren.

Mittlerweile kam sie sich wirklich wie in einem Horrorfilm vor. Sie vier noch auf der Flucht und die beiden längst in den Händen dieser unberechenbaren Neonazis. Wie hatte Kim noch gesagt? Der, der gerne dummes Zeug labert, stirbt als erster? Nein, stimmte gar nicht. Kim hatte gemeint er wäre der Held, der am Ende überlebt. Und Nico hatte das ebenfalls für sich in Anspruch genommen. Wie sehr hoffte sie jetzt, dass beide damit richtig lagen. Zwar rechnete sie nicht damit, dass die Typen sie gleich aufschlitzen würden, doch bloß zum Diskutieren waren sie mit Sicherheit auch nicht nachts in den Wald gefahren.

„War es wirklich richtig, die beiden einfach so ihrem Schicksal zu überlassen?“, fragte Sarah jetzt in die Stille hinein. „Es ist richtig so schnell wie möglich die Polizei zu rufen“, antwortete Meena rigoros und prüfte gleich noch einmal, ob sie endlich wieder Empfang hatte. Noch nicht. „Mist“, fluchte sie, „Los kommt, je eher wir Hilfe holen, desto besser für Kim und Nico.“

Sie beeilten sich, so viel Wegstrecke wie möglich zwischen sich und das Haus Helene zu bringen. Zum Glück war der Campingplatz nicht mehr weit. Sie würden die Polizei rufen, in die Stadt fahren, Kim und Nico würde nichts passieren und dann war es vorbei. Zumindest redeten sie alle sich das ein, klammerten sich an diese Hoffnung, um mit ihr die Panik zu vertreiben, die immer noch ihre kalten Finger nach ihnen ausstreckte.

Zwischen den Bäumen hindurch konnte Acy jetzt schon das spiegelnde Wasser des Sees sehen, das unglaublich beruhigend auf sie wirkte. Sie hatte Sarah weisgemacht, nichts könne sie mehr schocken, seit sie mit ihrer Krebserkrankung zu kämpfen hatte. Das stimmte jedoch nur teilweise. So unmittelbar in einer gleichermaßen bedrohlichen wie unberechenbaren Situation zu stecken, ließ wohl niemanden einen kühlen Kopf bewahren. Und leider ließ sich auch nicht der eine Schrecken gegen den anderen aufrechnen und damit minimieren. Schlimm war immer das, was einem am nächsten war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich der Campingplatz in Sicht. Endlich in Sicherheit. Sofort zückte Gideon sein Handy und wählte die 110. „Tu das nicht, Dicker“, dröhnte plötzlich eine Stimme von der Anmeldung her. Sie alle verharrten mitten in der Bewegung. Zwei Männer standen dort, der eine mit Basecap, der andere mit einer Bomberjacke. Der mit der Bomberjacke hatte ein Messer in der Hand und genau das drückte er Jacky an den Hals, die er mit der anderen Hand fest umklammert hielt.

„Schmeißt eure Handys weg, sonst werdet ihr es bereuen“, brüllte der andere. Jacky wimmerte vor sich hin und zitterte am ganzen Körper. Ihre Kleidung war dreckverschmiert, nass, zerrissen und ließ erahnen, was sie durchgemacht hatte. Acy musste sich vorstellen, wie die Männer sie hier abgefangen hatten, sie vielleicht geflohen war und die Typen hinter ihr her. Sie waren immerhin zu mehreren im Sanatorium gewesen, Jacky hingegen völlig allein. Unvorstellbar, was sie durchlitten hatte, dachte Acy und schob die Bilder weit von sich.

Gideon war der erste, der sein Handy fallen ließ. Meena und Sarah taten es ihm gleich und auch Acy nestelte ihr Smartphone aus der Tasche und legte es auf den Boden. Dabei versuchte sie, den Pin einzugeben und unauffällig die Nummer der Polizei zu wählen. Die Basecap durchschaute aber, was sie vorhatte, ging drohend auf sie zu und zertrat das auf dem Boden liegende Gerät dann mit dem Absatz seines schweren Stiefels.

Innerlich verfluchte Acy Gideon, der viel schneller hätte reagieren können. Hätte er sein Handy nicht fallen lassen, sondern es langsam zu Boden gelegt, hätte er dabei vielleicht die Polizei rufen können und die hätten sich wundern, das Handy orten und eine Streife hier rausschicken können. Je länger sie sich an den Gedanken klammerte, desto unwahrscheinlicher erschien er ihr aber. Sie musste sich wohl eingestehen, dass sie sich spätestens jetzt in einer wirklich ausweglosen Situation befanden.

„Was wollt ihr jetzt mit uns machen?“, rief sie in einem letzten Aufwallen von Widerstand, „Uns umbringen?“ Darüber hatten sie sich offenbar noch keine konkreten Gedanken gemacht. Zumindest sahen die Bomberjacke und die Basecap sich einen Moment lang ratlos an. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren und sie konnten sich eine Chance zur Flucht erarbeiten. „Es wissen genug Leute, dass wir hier sind und die werden spätestens morgen nach uns suchen“, hörte Acy jetzt auch Sarahs Stimme.

„Sie hat Recht“, nahm Gideon den Faden auf, „Außerdem sind wir nur in ein altes, leeres Haus eingebrochen, was ist denn so schlimm daran?“ Genau, sie mussten die beiden unbedingt glauben machen, dass sie nichts gesehen hatten. „Wir wussten ja nicht, dass es Ihnen gehört, wir dachten es steht leer“, versuchte Acy ihn zu bekräftigen, „weil ja auch nichts drin war und da dachten wir, es wäre nicht so schlimm.“

An den Gesichtern der beiden konnte sie sehen, wie es hinter ihren Stirnen arbeitete. Für einen Moment überlegten sie, was sie tun sollten, doch dann sagte die Bomberjacke: „Wir warten bis die anderen wieder hier sind. Los, Maik, fessel sie, damit sie nicht noch auf dumme Gedanken kommen.“ Die Basecap gehorchte und kramte aus dem Kofferraum ihres Golfs ein Seil hervor.

Wie Blitze schossen Acy die Möglichkeiten durch den Kopf, die ihnen jetzt noch blieben. Sie konnten versuchen zu fliehen, was auf jeden Fall Jacky in Gefahr brachte. Oder nur einer von ihnen versuchte wegzulaufen und sie hofften darauf, dass die beiden sich damit zufriedengaben, die anderen in Schach zu halten. Leider hatte auch das wenig Aussichten auf Erfolg, da das Messer an Jackys Kehle eine deutliche Sprache sprach. Die beiden hatten selbst keinen Plan, waren allerdings wild entschlossen, die Oberhand zu behalten. Sie drohten nicht bloß, sie würden nicht lange fackeln und Taten folgen lassen. Damit war jeder Fluchtversuch zu riskant, denn Typen wie die waren, wenn sie spontan reagieren mussten, unberechenbar.


 

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