Kultur / Federkiel / Das Sanatorium

11.03.2017

Das Sanatorium - Kapitel 10


Eine Flucht vor den fremden Männern scheint unmöglich. So bleibt Acy und Sarah nur, sich zu verstecken und darauf zu hoffen, dass sie nicht entdeckt werden, während die anderem nach einem Ausweg suchen.

von Christian Dolle

Kapitel 10 - Die Schritte kommen immer näher

Kim gab den anderen ein Zeichen, ganz leise wieder hinters Haus zu gehen. Er selbst kroch sogar noch etwas näher an die Fremden, die unübersehbar Baseballschläger bei sich trugen, heran und versuchte, etwas von dem aufzuschnappen, was sie sagten. Zwecklos, dachte Acy, widersprach aber nicht, sondern folgte den anderen wieder zur Rückseite des Sanatoriums. Kurz bevor sie das Fenster erreicht hatten, heulte Sarah kurz, aber schmerzvoll auf. Vor lauter Aufregung hatte sie ein Erdloch übersehen und war mit ihrem ohnehin verdrehten Fuß mitten hineingetreten.

Acy war sofort bei ihr, um sie zu stützen. Sarah verzog das Gesicht, klammerte sich an ihr fest, dann war auch Nico da und gemeinsam halfen sie ihr noch einmal durch das Fenster. „Wie schlimm ist es?“, flüsterte Acy. „Nicht so schlimm, dass ich jetzt sage: lasst mich zurück, allein könnt ihr es schaffen.“ Sie beide mussten über den Spruch grinsen, was gut tat, weil es half, die Anspannung im Griff zu halten.

Acy legte den Arm um ihre Freundin und Sarah flüsterte so leise, dass die anderen es nicht hörten: „Keep cool, wir beiden haben schon Schlimmeres durchgemacht.“
Wenn Sarah oft auch zögerlich war, gab es immer wieder Momente, in denen sie wahre Stärke bewies und auch Acy immer wieder die Kraft gab, niemals aufzugeben. Bevor sie aber weiter darüber nachdenken konnte, huschte plötzlich Kims Schatten durchs Fenster.

„Was wollen die Typen?“, fragte Meena. „Keine Ahnung. Bevor ich nahe genug herangekommen wäre, um etwas zu verstehen, hätten sie mich gesehen. Nur Urban Explorers oder Sprayer sind die ganz sicher nicht“, gab Kim zurück. Einer von denen sei am Loch im Zaun geblieben, die beiden anderen zur Vordertür gegangen, berichtete er, da habe er sich aus dem Staub gemacht.

Keiner von ihnen wagte es auszusprechen, doch sie alle hatten den Eindruck, dass diese Typen ihretwegen hier waren und dass es etwas mit ihrem Fund im Keller zu tun hatte. „Auf jeden Fall sollten wir so schnell wie möglich hier verschwinden“, stellte Nico fest. „Ich kann aber nicht schnell verschwinden.“, protestierte nun Sarah und rieb wie zur Bekräftigung ihren verletzten Knöchel.

„Okay, passt auf“, entschied Gideon kurzentschlossen, „egal, was die Typen wollen, es ist besser, wenn sie uns hier nicht sehen. Also sucht ihr draußen nach einem anderen Durchgang durch den Zaun und ich bleibe mit Sarah solange hier, bis ihr was gefunden habt.“ Keinem von ihnen gefiel der Vorschlag so recht, nur hatte auch niemand einen besseren. „Also gut, machen wir so“, bestimmte Acy, „aber ich bleibe mit Sarah hier. Wir verstecken uns in der Nähe der Fenster und wenn ihr einen Weg vom Gelände gefunden habt, gebt ihr uns mit der Taschenlampe ein Zeichen.“

In diesem Moment hörten sie ein Geräusch aus dem Foyer. Die Männer waren jetzt im Gebäude, so dass für weitere Diskussionen keine Zeit mehr blieb. Mit einem Kopfnicken, das entschlossener aussah als es sich anfühlte, bedeutete Acy den anderen, jetzt zu verschwinden und kauerte sich mit Sarah in eine Ecke. Während die anderen fast lautlos durchs Fenster kletterten, gaben sich die Männer in der Eingangshalle keine Mühe, Geräusche zu vermeiden. Im Gegenteil, sie ließen die Baseballschläger sogar gegen die Heizkörper knallen als wollten sie jeden, der sich im Gebäude befand, aufscheuchen.

Acy und Sarah verhielten sich ganz still und lauschten. Zumindest kamen die Schritte nicht näher. Da aber auch auf der Treppe nichts zu hören war, nahm Acy all ihren Mut zusammen und schlich bis zur angelehnten Tür. Durch den schmalen Spalt spähte sie in den Flur hinaus und hatte Mühe, überhaupt etwas zu erkennen.

Erst nach und nach hoben sich die Schatten zweier Personen von der Umgebung ab. Sie konnte sehen, wie die beiden sich suchend umsahen und immer wieder lauschten, ob sich hier noch jemand befand. Dann fing der größere von beiden an, geräuschvoll die ersten Türen aufzureißen und mit einer Taschenlampe in die Räume zu leuchten. Wenn sie bis hierher kommen, dann entdecken sie uns, schoss es Acy durch den Kopf. Dann war ihre einzige Chance, durch das Fenster zu flüchten, hoffentlich unerkannt. Von da an würde sie dann nur noch beten können, dass Sarah trotz Schmerzen schnell genug laufen konnte.

Was die beiden sonst mit ihnen machen würden, wollte sie sich gar nicht ausmalen. Immerhin hatten diese Typen mit Waffen zu tun, waren wahrscheinlich in illegale Geschäfte verstrickt und möglicherweise zu allem fähig. Oder es waren überzeugte Neonazis, die sogar Spaß daran hatten, die Waffen auch auszuprobieren und denen einige unschuldige Opfer gerade recht kamen. Beides war keine vielversprechende Option.

Jetzt galt es, einen kühlen Kopf zu bewahren, und wenn sie in den vergangenen Jahren eines gelernt hatte, dann wie man auch aus einer ausweglosen Situation das beste macht, ohne in lähmende Panik zu verfallen. Sie beobachtete den Mann, wie er weiter Türen aufriss und Räume durchsuchte und verhielt sich ganz still. Nur noch sieben Zimmer war er jetzt von ihr entfernt, sechs, fünf. Noch zwei weitere Türen, dann musste sie mit Sarah verschwinden, sagte sie sich.

Doch dann erklang plötzlich die Stimme des anderen. „Norman“, rief er, lass uns lieber unten nachsehen, ob die unser Lager entdeckt haben. Vielleicht waren sie ja auch gar nicht im Keller.“ „Vielleicht, vielleicht“, brüllte der andere gereizt zurück, „Ich hab' euch gleich gesagt, wir können die Tür nicht unverschlossen lassen. Wie konnte Maik auch so blöd sein?“ Zum Glück drehte er daraufhin um und folgte seinem Kumpel zur Kellertreppe.

Acy atmete auf und kroch zurück zu Sarah, die während der ganzen Zeit das Fenster im Auge behalten hatte. Ihre Freundin zitterte sichtlich und es war bestimmt nicht die nächtliche Kälte. „Sie sind im Keller. Das dauert hoffentlich 'ne Weile“, versuchte Acy möglichst beruhigend zu klingen, „Hast du von den anderen schon 'was gesehen?“ Sarah schüttelte den Kopf. „Nur Schatten ab und zu“, flüsterte sie, „wahrscheinlich gibt es nur dieses eine Loch im Zaun und das bewacht der dritte Kerl und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden und...“

Acy packte sie fest am Arm und bedeutete ihr, ruhig zu sein. Unkontrollierte Panik war das letzte, was sie jetzt brauchten. „Hast du denn keine Angst?“, wollte Sarah wissen. „Natürlich hab' ich die“, gab Acy zu, „aber, du weißt ja, in den letzten drei Jahren hat dieser beschissene Krebs mir immer wieder gezeigt, dass sich unser Leben von einem Tag auf den anderen völlig ändern kann und dass jeder Tag dein letzter sein könnte. Dagegen sind diese drei Typen eine ganz kleine Nummer, glaub mir.“

Die beiden Frauen sahen einander fest in die Augen. Plötzlich flackerten in ihrer Erinnerung Bilder aus Krankenhäusern auf, von ganz schwarzen Tagen, an denen alles aussichtslos erschien, von unzähligen Arztbesuchen, von ausfallenden Haaren und von schockierten Bekannten, die von Acys Krankheit erfuhren und überhaupt nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Sarah hatte all das miterlebt, ihrer Freundin zur Seite gestanden und diese nicht selten selbst als die Tröstende erlebt. Sie hatten in der Tat zu viel mitgemacht, um sich noch von irgendetwas aus der Bahn werfen zu lassen.

„Also gut“ sagte Sarah mit wiedergefundener Entschlossenheit in der Stimme, „so schlimm geht es meinem Bein auch nicht. Wir gehen jetzt da raus, suchen die anderen und dann verschwinden wir von hier.“ Bevor Acy reagieren konnte, breitete sich ein metallisches Dröhnen im gesamten Sanatorium aus. Der Mann bearbeitete mit seinem Baseballschläger offenbar die Heizungsrohre im Keller, was nur eines bedeuten konnte. Sie waren sich ziemlich sicher, dass ihr Versteck aufgeflogen war und würden nun alles tun, um die Mitwisser zum Schweigen zu bringen. Es war wirklich höchste Zeit, von hier zu verschwinden.


 

Anzeige