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04.02.2017

Das Sanatorium - Kapitel 5


Die Schatten der Vergangenheit scheinen in der alten Heilanstalt deutlich präsent. Die Vergangenheit ist hier geradezu mit Händen greifbar und sie birgt für die Besucher einige Gefahren.

Kapitel 5 - Vor der Welt versteckt

von Christian Dolle

Hinter einer weiteren Flügeltür endete der beengende Flur endlich und sie standen in einer weiten Lobby, in der sich an der einen Seite der vernagelte Haupteingang und gegenüber eine geschwungene Treppe in die oberen Stockwerke befanden. Tagsüber musste es hier lichtdurchflutet und einladend aussehen, denn überall befanden sich große Fenster in denen früher vielleicht sogar buntes Glas eingesetzt war. Jetzt allerdings gab es nur noch Scherben, etliche davon auf dem Boden und durch die offenen Fenster weiter oben konnten sie einen klaren Sternenhimmel sehen.

„Waren solche Nervenheilanstalten eigentlich echt dafür da, damit die Leute gesund werden, oder wollte man sie darin nur wegsperren?“, fragte Kim in die Runde. „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Acy, „aber ich glaube im Mittelalter gab es hauptsächlich Teufelsaustreibungen und auch später wurden psychisch Erkrankte als abschreckende Beispiele zur Schau gestellt und waren dem Spott aller anderen hilflos ausgesetzt. Insofern waren die Sanatorien dann auf jeden Fall ein Fortschritt.“ Meena stimmte ihr zu und ergänzte, sie habe gelesen, dass viele Menschen noch bis ins  19. Jahrhundert durchgehend in Ketten gelegt wurden.

„Stelle ich mir trotzdem schlimm vor, hier ausgegrenzt zu sein, nur weil du irgendeine Erkrankung hast“, meinte Kim und sah sich mit immer noch skeptischem Blick um. Acy nickte und sagte dann: „So viel weiter sind wir heute letztlich auch nicht. Wenn jemand Aids hat oder dir nach einer Chemotherapie die Haare ausfallen, wirst du immer noch von vielen gemieden.“

Ein Poltern aus den oberen Stockwerken unterbrach ihr Gespräch und auch ihre Gedanken. Es klang als sei dort irgendetwas umgefallen, vielleicht hatten sich dort oben Tiere eingenistet oder der Wind pfiff durch die Ritzen. An andere Möglichkeiten mochte keiner von ihnen denken. Was, wenn außer ihnen noch jemand hier war? Was, wenn es noch etwas ganz anderes war? Nein, Unsinn. Monster gab es nur in Horrorfilmen und falls sich jemand dort oben herumtrieb, sicher nur ein Sprayer, der mehr Angst vor ihnen hatte als sie vor ihm.

„Oder es ist doch der Geist von Helene, der keine Ruhe findet“, flüsterte Gideon und fing sich dafür insbesondere von Sarah einen bösen Blick ein. „Also ich bin dafür, wir labern nicht lange herum, sondern sehen einfach nach. Deswegen sind wir doch hier, oder nicht?“, warf Nico mit herausforderndem Unterton in die Runde. Ganz nüchtern betrachtet hatte er Recht. Wenn sie jetzt feige den Rückweg antraten, würden sie sich morgen darüber ärgern.

Trotzdem griffen Meena, Acy und auch Kim zu Holzstücken oder Eisenrohren, die herumlagen und die sie im Zweifelsfall als Waffe einsetzen könnten. Vor allem aber gab es ihnen ein vermeintliches Stück Sicherheit und sie fühlten sich nicht ganz so schutzlos. Dann stiegen sie langsam die Treppe hinauf, deren hölzerne Stufen unter ihren Füßen knarrten und von denen einige auch schon ganz schön morsch zu sein schienen.

„Allzu dicht sollten wir nicht zusammen gehen“, schlug Meena vor, „nicht, dass wir dann zu schwer für die Treppe sind.“ So gingen sie nacheinander, ihre Sinne zum Zerreißen gespannt, denn sie rechneten alle insgeheim damit, gleich wieder etwas zu hören oder gar zu sehen.

Mit einem lauten Krachen, dessen Widerhall im gesamten Gebäude von den kahlen Wänden zurückgeworfen wurde, brach nun tatsächlich eine Stufe unter Gideon weg. Er sackte mit dem Fuß in den Spalt, konnte sich aber am Geländer festhalten und sofort war Kim bei ihm, um ihm herauszuhelfen. So blieb es bei einem gehörigen Schreck, der ihnen in die Glieder fuhr und dem in der Stille ohrenbetäubend scheinenden Geräusch, das wie eine Welle durch die Flure geisterte, bevor es verhallte.

„Das kommt davon, wenn man zu fett ist'“, überspielte Gideon sein eigenes Nervenflattern, „Darum sterben die Dicken in Horrorfilmen auch immer zuerst.“ Er hatte sich das Knie aufgeschrammt, schlimmer war es zum Glück nicht, doch ihrer aller Herzen schlugen jetzt schneller und lauter. „Wir sind aber nicht in einem Horrorfilm und es wird auch niemand sterben“, zischte Sarah Gideon an. „Aber selbst wenn“, nahm Nico den Faden auf, „die Hübsche wird meistens von dem blonden Helden gerettet und überlebt.“

Acy hüstelte reflexartig, doch die Sprüche halfen, die ganze Situation nicht so bedrohlich erscheinen zu lassen. „Na, wenn der Hübsche überlebt, dann brauche ich mir ja auch keine Sorgen zu machen, und der Held, der euch alle rettet, bin ich auch gerne“, stieg jetzt auch Kim darauf ein. „Alter, ich fürchte, da hast du schlechte Karten“, lachte Gideon laut auf, „denn der Typ, der zu viel Scheiße labert, wird gleich nach dem Dicken vom Killer niedergemetzelt.“ Die anderen fielen in sein Lachen mit ein und plötzlich war das Sanatorium wieder das, was es tatsächlich war, nämlich ein leerstehendes Gebäude, bei dem sie nur darauf achten mussten, wohin sie traten.

Die erste Etage unterschied sich kaum vom Erdgeschoss. Auch hier zweigten lange, enge Flure zu beiden Seiten ab, auch hier blätterte die Farbe von den Wänden und alles war voller Staub und Spinnweben. Im Licht der Taschenlampen betrachteten sie einige Graffiti und stellten fest, dass schon ganze Heerscharen von Urban Explorers hier gewesen sein mussten. Viele der Tags waren mit einem Datum versehen und die meisten zierten die Wände schon seit mehreren Jahren.

Auf große Entdeckungen brauchten sie also nicht mehr hoffen, dafür eben auch nicht auf allzu unliebsame Überraschungen. Hofften sie jedenfalls. Der Nervenkitzel war trotzdem da und gerade durch Gideons Videoprojekt hatte das alles seinen besonderen Reiz. Auch jetzt als die drei wieder die Kamera aufbauten und Gideon sich über die Nazizeit und ihre Humanexperimente ausließ.

„Möchtest du lieber zurück zum Campingplatz?“, flüsterte Acy Sarah zu. Die schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut. Ich habe zwar irgendwie die Hose voll, aber Gideon macht das total toll und ich bin froh, dabei sein zu können. Außerdem finde ich ehrlich gesagt Nico gar nicht so uninteressant.“ Acy hätte ihre Freundin am liebsten kräftig durchgeschüttelt. „Im Ernst? Ey, komm, der Typ ist mit Jacky da, hat außerdem noch eine Freundin und, dass er dich jetzt anbaggert, spricht nicht gerade für seinen Charakter.“ „Weiß ich ja“, räumte Sarah ein, „aber gerade das finde ich irgendwie reizvoll.“

Über Geschmack ließ sich ja bekanntlich streiten. „Außerdem“, brachte Sarah wie zur Verteidigung vor, „geierst du doch die ganze Zeit Kim an.“ „Stimmt doch gar nicht. Ich finde ihn ganz süß und irgendwie auch interessant, aber ich geiere ihn nicht an“, protestierte Acy. Sarah grinste. „Würde dir sowieso nichts nützen. Der süße und irgendwie interessante Kim ist nämlich schwul. Hat Meena mir gesteckt.“ Acy zuckte nur müde mit den Schultern. Sie war nicht hier, um die große Liebe zu finden oder auch nur einen kleinen Flirt, sondern bestenfalls, um neue Leute kennenzulernen, die sie auf andere Gedanken brachten und bei denen sich nicht alle Gespräche früher oder später nur um das eine Thema drehten.

Während Meena, Kim und Gideon weiter aufnahmen und Nico schon ein Stück den Gang hinunter ging, öffneten Sarah und Acy eine Tür mit einem runden Guckfenster darin. Der Raum dahinter war größer als die meisten anderen, die sie bis jetzt gesehen hatten, außerdem gekachelt und hinter einer durchbrochenen Wand befanden sich ziemlich ranzig aussehende Waschbecken, und Badewannen

„Hey, das muss mal ein Behandlungsraum gewesen sein“, vermutete Sarah und sofort waren die anderen bei ihr. „Cool!“, entfuhr es Kim, „lasst uns die Szene nochmal drehen. Hier kommt das noch viel besser.“ An Acy und Sarah gewandt fügte er hinzu: „Sorry, wenn ihr warten müsst, aber das kommt als Kulisse echt gut.“ Dabei war das Warten für die beiden absolut kein Problem, schließlich waren sie genau deswegen hier.

Nico sah das ein wenig anders und wollte so schnell wie möglich mehr vom Gebäude sehen. Schon war er wieder bei der Treppe und machte sich auf den Weg in die nächsthöhere Etage. Eigentlich hatten sie alle zusammenbleiben wollen, schon aus Gründen der Sicherheit, allerdings wagte auch niemand, Nico Vorschriften zu machen oder wollte einen neuen Streit vom Zaun brechen. So ging er nach oben und sie hörten nur noch seine leiser werdenden Schritte auf der Treppe.


 

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