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28.01.2017

Das Sanatorium - Kapitel 4


Acy und die anderen sind i9nzwischen beim Haus Helene angekommen und suchen einen Weg hinein. In dem alten Gebäude empfängt sie eine unerklärliche schaurige Stimmung, die keinen von ihnen kalt lässt:

Kapitel 4 - Spuren des Verfalls

von Christian Dolle

Das Haus Helene strahlte diesen typischen verblassten Glanz aller Lost Places aus, dieses deutliche  Zeichen dafür, dass alles vergänglich war und irgendwann einmal verfallen würde. Sie standen jetzt dicht davor und nur ein hoher Maschendrahtzaun mit Stacheldraht darüber trennte sie noch vom Grundstück des einstigen Sanatoriums. Noch immer schwiegen sie und ließen ihre Blicke schweifen.

Die Fassade war in typischer Harzer Bauweise holzverkleidet, die meisten Fenster im Erdgeschoss  vernagelt und wie erwartet hatten sich in den vergangenen Jahren viele Sprayer hier ausgetobt. Früher musste die Heilanstalt einmal inmitten eines parkähnlichen Gartens gelegen haben, davon zeugten einige kniehohe Mauern und kaum noch erkennbare gepflasterte Wege. Inzwischen war jedoch alles überwuchert, Dornen, Brennnesseln und auch einige Sträucher und junge Bäume holten sich zurück, was die Bauherren der Natur damals genommen hatten.

„Kommt mit, dort hinten kommen wir rein“, durchschnitt Gideons Stimme die Stille und er deutete auf ein großes Loch im Zaun. In all den Jahren waren sie längst nicht die ersten, die sich hier umschauten, vermutlich waren alle Geheimnisse, die die Heilanstalt je geborgen hatte, längst aufgedeckt und die Wände, die so viel erzählen könnten, unter zahllosen Graffiti kaum noch sichtbar.

Einer nach dem anderen kletterten sie durch das Loch und spürten dabei auf sonderbare Weise, dass sie jetzt ein Terrain betraten, auf dem die Zeit zumindest ein Stück weit stehengeblieben und das von der Außenwelt abgerückt war. Es herrschte eine geradezu gespenstische Stille, die sie sich vielleicht aber auch nur einbildeten, weil in Büchern, Filmen und Videospielen solche Orte immer ein Hort des Bösen waren. In Wirklichkeit war das Haus einfach ein stummer Zeuge einer prunkvollen Epoche, bei dem es schade war, dass man es hatte verfallen lassen.

„Wenn ich mich richtig erinnere, wurde es Haus Helene genannt, weil die Tochter des Erbauers an einer psychischen Krankheit litt und er nach Möglichkeiten der Heilung suchte oder so ähnlich“, flüsterte Meena beinahe andächtig. „Allerdings wurde sie niemals hier behandelt, weil sie noch vor der Fertigstellung verstarb“, fügte Gideon hinzu. Nico lachte spöttisch auf. „Und jetzt spukt sie seit über hundert Jahren hier herum, oder was?“, fragte er. „Davon hat keiner 'was gesagt“, gab Gideon zurück, „Ich finde es nur traurig, sich vorzustellen, wie viele Krankheiten früher tödlich waren, weil sie einfach noch nicht richtig erforscht waren oder wie viele Leute weggesperrt wurden, weil niemand richtig mit ihnen umzugehen wusste und daher alle Angst hatten.“

Wieder schwiegen alle einen Moment, dann kreischte Sarah plötzlich auf. Sie deutete auf eines der oberen Fenster und stammelte: „Sorry, Leute, aber ich dachte gerade, ich hätte dort wirklich eine Gestalt gesehen. Hört auf, von Geistern zu reden, und lasst uns einfach reingehen, ja?“ Von den anderen gab es keinen Widerspruch und Nico nahm sogar Sarahs Hand, um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Oder aber um auszunutzen, dass Jacky gerade nicht da war, dachte Acy und biss sich auf die Lippe, um keinen bissigen Kommentar abzufeuern.

Sie nahmen nicht die große Freitreppe, die zum mit Säulen verzierten Haupteingang führte, sondern folgten Gideon um das Gebäude herum zur Rückseite. An einem Fenster  hatte jemand die Bretter weggerissen, so dass sie dort einsteigen konnten. Nacheinander schlüpften sie hindurch und ließen ihre Taschenlampen durch den großen, leeren Raum mit der hohen Decke kreisen. Die Farbe und teilweise auch der Putz blätterten von den Wänden, eine dicke Staubschicht mit vielen Fußabdrücken früherer ungebetener Besucher bedeckte den schwarz-weiß gefliesten Boden und es roch feucht und ein wenig modrig.

In ihrer Vorstellung konnte Acy metallene Betten sehen und alte Behandlungsstühle, die eher wie Folterinstrumente aussahen. Gideon hatte schon Recht, wenn er die medizinischen Möglichkeiten von damals als unfassbar rückständig und schaurig beschrieb. Allerdings würden die Leute in ein paar Jahrzehnten das sicher auch über heutige Behandlungsmethoden sagen und vielleicht auch den Kopf darüber schütteln, dass einige Krankheiten immer noch in den meisten Fällen unweigerlich zum Tod führten.

Sie riss sich mühsam aus ihren Gedanken und konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung. Die anderen waren längst auf den Gang hinausgetreten, der sich endlos und mit unzähligen Türen an den Seiten durch das gesamte Gebäude zu ziehen schien. Mochte das Haus von außen auch äußerst ansehnlich gewesen sein, solche engen Flure mussten auch damals schon Beklemmungen ausgelöst haben.

„Na los, lasst uns nachsehen, hinter welcher der Türen Helenes Geist lauert“, forderte Kim im lockeren Plauderton, der ihrer aller Anspannung aber nicht ganz zu vertreiben vermochte. „Warte“, stoppte Gideon ihn, „baut erstmal die Kamera auf, ich will ein paar Begrüßungsworte sagen.“ Meena und Kim kramten in ihren Rucksäcken, stellten ein Stativ auf, befestigten die Kamera darauf und sorgten mit ihren Taschenlampen für diffuses Licht, das in der Tat sehr atmosphärisch wirkte.

Acy, Sarah und Nico hielten sich im Hintergrund und hörten zu, wie Gideon seine Zuschauer begrüßte und noch einmal auf die Geschichte der ehemaligen Nervenheilanstalt einging. Hier vor Ort wirkte das alles viel unheimlicher als am Lagerfeuer und zudem hatte Gideon ein ausgezeichnetes Gespür für Stimmungen und die richtige Wortwahl. „Freunde, ich will euch keine Angst machen, aber jetzt bei Dunkelheit habe ich echt den Eindruck, hinter jeder Ecke könnte etwas Schreckliches lauern“, sagte er mit leiser, gepresster Stimme in die Kamera, „ich fixiere jeden Schatten, ob er sich bewegt, und lausche auf jedes Blatt, das im Wind raschelt. Aber hey, Moment mal, hier drin gibt es doch gar keine Blätter. Was ist es dann, was raschelt.“

„Okay, mach erstmal 'nen Cut“, forderte er nun wieder in normaler Stimmlage und Kim beendete die Aufnahme. Während Sarah und Acy ihn lobten, war Nico natürlich anderer Meinung und ätzte: „Wer sind deine Abonnenten? Dreizehnjährige Mädchen, die sich bei sowas in die Hose machen?“ Gideon schüttelte nur verständnislos den Kopf und zog es vor, sich nicht zu rechtfertigen oder sonst wie darauf einzugehen.

Kim und Meena packten das Equipment zusammen und sie gingen ein paar Schritte weiter durch den Flur, der nur ab und zu von schief in den Angeln hängenden Flügeltüren unterteilt wurde. Die Türen an den Seiten waren aus Holz, von dem ebenfalls die Farbe abblätterte, die meisten von ihnen offen. Sie gaben den Blick auf lauter gleiche Zimmer frei, deren Wände einmal farbig gewesen sein mussten, jetzt aber nur noch als verschiedene Graustufen erschienen. Alles wirkte äußerst trostlos, eben wie ein Gebäude, aus dem das Leben schon lange ausgezogen war.


 

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