Kultur / Federkiel

30.04.2024

Meine Nachbarin ist eine Hexe


Eine Gruselgeschichte zu Walpurgis

von Christian Dolle

In der Walpurgisnacht sind überall im Harz die Hexen unterwegs. Das war schon immer so. Natürlich auch in den 80ern. Da spielt diese Gruselgeschichte, mit der wir all unseren Leser*innen einen schönen Feiertag wünschen.

Es war spät geworden, die Sonne schon längst untergegangen. Mein Freund Michael und ich hatten an seinem Commodore 64 das neue Time Tunnel gespielt und dabei völlig die Zeit vergessen. Dabei hatten meine Eltern gesagt, ich solle zum Abendessen zu Hause sein. Aber Handys gab es damals nicht, und da Michael sein Zimmer im Keller hatte und seine Eltern arbeiten waren, wussten wir nicht einmal, ob das Wählscheibentelefon oben im Flur geklingelt hatte. 

Jetzt jedenfalls hatte ich es plötzlich eilig, und während Michael das Spiel beendete, suchte ich meine Adidas-Jacke mit den drei Streifen auf dem Ärmel, auf die ich damals besonders stolz war. Sie lag nach wie vor auf dem alten Sessel neben Michaels Bett mit der Gremlins-Bettwäsche, über dem das Poster zu „Zurück in die Zukunft“ hing. 

Michael brachte mich nach oben zur Haustür, dann rannte ich los. Damals durfte ich ja noch alleine nach Hause gehen. Wir lebten in einem kleinen Dorf und all die Gefahren, die Eltern heute auf ihre Kinder lauern sehen, spielten damals noch keine so große Rolle. Auf jeden Fall rannte ich durch die Straßen und machte mich auf das Donnerwetter gefasst, das mich erwarten würde. Mit Abendessen brauchte ich wohl nicht mehr zu rechnen. Aber zum Glück hatte ich immer einen Vorrat Raider in der untersten Schublade meines Nachtschrankes. 

Im Spiel Time Tunnel hatten wir Rätsel lösen müssen und dafür Items aus verschiedenen Zeitaltern wie der Steinzeit, der Zeit des amerikanischen Goldrauschs oder einer intergalaktischen Zukunft in 1000 Jahren sammeln. Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment, dass Zeitreisen möglich gewesen wären! Aber ich war zu jener Zeit fest überzeugt, dass ich sie spätestens erleben würde, wenn ich erwachsen wäre. 

Inzwischen glaube ich ehrlich gesagt nicht mehr dran, dass ich es noch erleben werde, in die Vergangenheit oder auch in die Zukunft zu reisen. Vor allem bin ich mir, anders als damals, auch nicht mehr sicher, ob ich das wirklich wollen würde. Viel zu groß wäre meine Angst, dadurch etwas zu verändern, was sich in der Gegenwart dann unvorhersehbar negativ auswirkt. Aber gut, das ist eine andere Geschichte. 

An jenem Abend beeilte ich mich, auf dem kürzesten Weg nach Hause zu rennen, dabei blickte ich immer wieder in die Seitenstraßen, in denen sich die Dunkelheit ausbreitete. Aus irgendeinem Grund musste ich an „Die unendliche Geschichte“ denken, die ich kurz zuvor gelesen hatte, und malte mir aus, es sei das Nichts, dass da aus den dunklen Gassen auf mich zukroch. 

Wenn ich nicht schnell genug war, würde es mich einholen und meine Eltern würden sich Zeit ihres Lebens große Sorgen um mich machen. Allerdings war die Aussicht auf ihre Sorgen vielleicht sogar besser als die auf das Donnerwetter, das mich erwartete, weil ich so viel zu spät kam. 

Bald hatte ich unsere Straße erreicht, nur noch ein paar Meter, dann würde ich da sein. Allerdings musste ich zuvor noch am gruseligen Haus mit der hohen Hecke vorbei. Es war ein uraltes großen Haus, dessen oberes Stockwerk und Dach man hinter der dichten Hecke sehen konnte, mehr kannten wir Kinder davon nicht. 

In dem Haus wohnte eine alleinstehende Frau, über die es in der Siedlung viele Gerüchte gab. Ottilie Auerbach, so hieß sie, arbeite in einem Nachtclub, hatte ich meine Eltern einmal sagen hören. Zwar wusste ich damals nicht, was das ist, doch allein ihr Tonfall verriet, dass es nichts Gutes sein konnte. 

Da sie nun einmal keine Kinder hatte, hatten auch wir Kinder aus der Nachbarschaft keinen Kontakt zu der Frau, und so entstanden über die Zeit weitere Gerüchte. Sie sei eine Hexe, hieß es häufiger, woher das rührte, wusste ich nicht und hielt es auch für unwahrscheinlich. Doch wie das in dem Alter nun einmal ist: unwahrscheinlich heißt nicht unmöglich. Und so hielten wir alle Abstand von jenem Haus. 

Immer, wenn ich an der dichten Hecke vorbeiging, hatte ich ein mulmiges Gefühl, so natürlich auch diesmal. Das Haus selbst war schon unheimlich, noch dazu war es dunkel und dann hörte ich auch noch seltsame Musik und Stimmen, die eindeutig aus dem Garten von Frau Auerbach drangen. 

Eigentlich wollte ich rennen und so schnell wie möglich nach Hause. Andererseits packte mich die Neugier und wenn mich schon das Nichts nicht erwischt hatte, würde mir vielleicht auch ein Blick in den Garten des Hexenhauses nicht schaden. Nur ganz kurz. Nur, um den anderen am nächsten Tag erzählen zu können, was sich dort Seltsames abspielte. 

Immerhin wusste ich, dass es ein Stück weiter hinten ein Loch gab, durch das wir Kinder hätten hindurchkriechen können. Es war zu einer Art Mutprobe geworden, sich dort auf den Bauch zu legen und durch das Geäst zu schieben. Natürlich bekamen wir nie etwas zu sehen, zumindest bisher nicht, doch diesmal hörte ich nun einmal die Musik und die Stimmen. 

Wenn ich doch nur nicht ganz allein gewesen wäre! So stand ich minutenlang vor der Hecke und überlegte, was ich tun sollte. Am Ende siegte dann doch die Neugier, ich ging auf die Knie und legte mich dann flach auf den Bauch. Langsam, Stück für Stück schob ich mich voran.

Die Blätter kitzelten auf meinen Armen und in meinem Nacken, unter meinem Bauch spürte ich einige spitze Kieselsteine. Doch mutig schob ich mich Zentimeter um Zentimeter nach vorne, bis ich endlich etwas vom Garten sehen konnte. 

Der Garten war größer, als er von außerhalb aussah. Etliche uralte Bäume standen darin, an der Seite des holzverkleideten Hauses gab es eine gepflasterte Terrasse. Auf eben dieser stand eine große Feuerschale, in der einige dicke Holzscheite loderten. Um dieses Feuer tanzten etwa ein Dutzend Personen. Nun ja, wenn es denn Personen waren. 

Sie hatten durchaus eine menschliche Gestalt, doch waren sie in seltsam altertümliche Kleidung und sogar Felle gekleidet. Zudem hatten sie grausam entstellte Gesichter und einige von ihnen hatten Hörner auf dem Kopf. Mir stockte der Atem und ich presste mich so flach wie möglich auf den Boden, um nicht von ihnen gesehen zu werden. 

Die Musik war geprägt von rhythmischem Trommeln, im Takt dazu tanzten all diese Gestalten um das Feuer. Dabei erleuchteten die züngelnden Flammen ihre Gesichter unregelmäßig und ließen alles noch schauriger aussehen. Einem der Tänzer fehlte ein Auge und auch die Haut darum herum, so dass auf einer Seite seines Gesichts der nackte Schädelknochen zu sehen war. 

Auch Ottilie Auerbach erkannte ich, allerdings trug auch sie ein Fell um die Schultern, ihr Gesicht war mit Zeichen aus blutroter Farbe bemalt und auch die hatte auf einmal Hörner auf der Stirn. Fast konnte ich einen Schrei des Entsetzens nicht mehr unterdrücken, doch ich presste mir gerade noch rechtzeitig die Hand auf den Mund. 

Im Flackern des Feuers sah ich, dass auch ihre Augen sich verändert hatten, sie leuchteten blutrot und äußerst gefährlich. Was diese Menschen dort taten, wusste ich nicht, aber mir war klar, dass es nichts Normales sein konnte. Vermutlich waren sie alle tatsächlich so etwas wie Hexen und Teufel oder Dämonen, die in dieser Nacht ein mysteriöses Ritual vollzogen. 

Auf jeden Fall durfte ich mich nicht von ihnen erwischen lassen, das war mir in diesem Moment klar, und so kroch ich langsam zurück durch die Hecke. Dabei konnte ich allerdings nicht verhindern, dass einige Zweige sich in meiner geliebten Adidas-Jacke verfingen und beim Zurückschnellen raschelten. Nicht laut, doch offenbar laut genug für die dämonischen Tänzer. Drei von ihnen blickten jetzt in meine Richtung, darunter auch Ottilie Auerbach mit ihren rot glühenden Augen. 

Instinktiv hielt ich den Atem an, bewegte mich keinen Millimeter weiter. Ich konnte nur hoffen, dass es dunkel genug war, damit sie mich nicht sehen konnten, und ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass sie mich auch nicht riechen konnten oder andere Sinne hatten, mit denen sie mich wahrnahmen. 

Ottilie Auerbach und einige andere blickten genau in meine Richtung, zwei von ihnen machten sogar ein paar Schritte auf die Hecke zu. Spätestens jetzt wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine Zeitreise oder auch das Nichts, das mich verschlang, bevor diese Kreaturen es tun konnten. 

Am liebsten hätte ich laut um Hilfe gerufen, doch eine innere Stimme sagte mir, dass sie mich noch nicht gesehen hatten und ich mich ganz still verhalten sollte. Sie gingen langsam auf die Hecke zu, sahen sich dabei suchend um. Eine rümpfte auch tatsächlich die Nase und sog die Luft ein, so als wittere er, dass hier jemand war, den er... fressen wollte? Ich wusste ja nicht, was sie mit mir tun würden, wenn sie mich entdeckten.

Dann plötzlich hörte ich ein Rascheln neben mir und ich schwöre, mein Herz setzte für ein paar Schläge aus. Aus reinem Instinkt wäre ich beinahe aufgesprungen oder hätte mich zumindest umgesehen, doch irgendwie gelang es mir, die Kraft aufzubringen, weiterhin auf den Boden gepresst liegen zu bleiben. 

Dann streifte etwas meine Wange, etwas Weiches. Im nächsten Augenblick sah ich aus dem Augenwinkel etwas Pelziges neben mir auftauchen. Es war die fette schwarze Katze aus der Nachbarschaft. Sie streifte meine Wange, schnurrte, dann trat sie aus der Hecke und sah sich nun selbst die sonderbare Gesellschaft im Garten des Hexenhauses an. 

Die wiederum erblickten die Katze und waren sich zum Glück sicher, dass sie das Rascheln verursacht hatte. Trotzdem blieb ich liegen, bis die Katze verschwunden war und die Musik wieder erklang. Erst dann schob ich mich Stück für Stück zurück auf den Gehweg und sobald ich aus der Hecke gekrochen war, stand ich auf und lief so schnell wie nie zuvor in meinem Leben nach Hause. 

Den Anschiss, den ich von meinen Eltern wegen des Zuspätkommens bekam, nahm ich dankend entgegen. Auch, dass es kein Abendessen gab, störte mich wenig, ich hätte sowieso keinen Bissen herunterbekommen. Dafür dachte ich noch lange über das nach, was ich gesehen hatte, und konnte mir absolut keinen Reim darauf machen. 

Allerdings war ich mir sicher, dass all das nicht mit rechten Dingen zugehen konnte und dass ich etwas gesehen hatte, was ich definitiv nicht hätte sehen sollen. Obwohl ich vor all den anderen als Held und Abenteurer dagestanden hätte, sprach ich mit niemandem über die tanzenden Dämonen in Ottilie Auerbachs Garten. Davon hielt mich die Angst ab, dass sie irgendwie doch noch herausbekommen könnten, dass ich an jenem Abend dort war und nicht nur die Katze und ich malte mir noch lange die schlimmsten Dinge aus, die sie mit mir hätten anstellen können. 

Ein paar Monate später zog ich mit meinen Eltern in eine andere Stadt. Dort fand ich neue Freunde, wurde älter und machte neue Erfahrungen. Die Hexe, die unsere Nachbarin gewesen war, sah ich nie wieder. Und doch denke ich noch oft an diese seltsame Szene, das Bild hatte sich fest in mein Gehirn gebrannt.

Besonders jetzt zu Walpurgis fällt es mir jedes Jahr wieder ein, denn wenn ich mich nicht sehr täusche, dann war jener Abend der Abend des 30. April, die Walpurgisnacht. 

 

Die Geschichte gibt es auch zum Hören:

 

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