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01.10.2022

„Ich habe es nicht bereut“


Ilyas Cangöz versteht sich immer noch gut mit seiner Ex-Frau Rabia Yücee

Ilyas Cangöz ist am 21. September seit 50 Jahren in Deutschland

...von Herma Niemann

Bis 1973 reisten rund 800.000 Arbeitnehmer aus der Türkei nach Westdeutschland. Grund dafür war das Abkommen der Bundesrepublik über die Anwerbung von Gastarbeitern. Deutschland brauchte Arbeitskräfte und die Türkische Republik litt unter hoher Arbeitslosigkeit. Der heute in Herzberg lebende Ilyas Cangöz war einer von ihnen, und kam am 21. September 1972 nach Deutschland.

Da war er gerade mal 15 Jahre alt. Wie er in einem Gespräch mit unserer Zeitung sagt, sollte er eigentlich bereits am 7. September nach Deutschland einreisen. Zu dem Zeitpunkt seien die Jugendlichen mehrere Tage in Istanbul gewesen für einen Eignungstest.

Als es am 6. September am Nachmittag dann mit dem Flugzeug nach Deutschland gehen sollte, wurde ihnen mitgeteilt, dass die Flüge nach München und Düsseldorf gestrichen worden seien. Grund dafür war das Münchner Olympia-Attentat vom 5. September 1972. Das war ein Anschlag der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen. Es begann als Geiselnahme und endete in den frühen Morgenstunden des 6. September mit der Ermordung aller elf israelischen Geiseln und eines Polizisten sowie mit dem Tod von fünf der acht Geiselnehmer. Zwei Wochen später habe es aber mit dem Flug geklappt, sodass er mit mehreren anderen Jugendlichen nach Dinslaken ins Ruhrgebiet kam. Dort wurden dringend Lehrlinge im Bergbau benötigt. Cangöz absolvierte also eine dreijährige Ausbildung zum Bergknappen. Einmal im Jahr habe man nach Hause in die Türkei für sechs Wochen fahren dürfen. Der restliche Kontakt ging über Briefe. Auch heute besucht Cangöz seine Familie noch regelmäßig. Von seiner Ausbildungsvergütung wurde die Unterkunft und das Essen in der Gastfamilie bezahlt, der Rest wurde gespart.

Er selber habe im ersten Ausbildungsjahr fünf Mark Taschengeld im Monat bekommen. Anfangs sei das Heimweh schon groß gewesen, aber bereits da habe man sich untereinander gegenseitig unterstützt. Unterkunft fanden die jungen Menschen in Dinslaken im Pestalozzidorf in Oberlohberg. Seit den 1960er Jahren kamen Jugendliche dorthin, um Berglehrlinge zu werden. Im ersten Jahr hätten die Jugendlichen auch nur Übertage arbeiten müssen, was sich dann im zweiten Jahr natürlich änderte. „Der erste Tag Untertage war schrecklich“, so Cangöz „bei jedem noch so kleinen Stein, der fiel, zuckte man zusammen“. Später habe man sich daran gewöhnt. Im Mai 1979 kam Cangöz nach Herzberg, wo er auch noch heute mit seiner Lebensgefährtin lebt. Nach Deutschland zu kommen, habe er nicht bereut. Selbst als viele seine Kollegen Anfang der 1980er Jahre mit sogenannten Rückholprämien wieder zurück in die Türkei gegangen seien. „Man muss realistisch bleiben, weil es einen zumindest annähernd gleichen Lebensstandard wie in Deutschland in der Türkei nicht gibt“. Und in Herzberg? „Ich fühle mich wohl hier, es ist eine schöne Stadt. Es ist alles da, das Schloss, der Juessee und der Harz vor der Haustür“. Neben seiner beruflichen Weiterentwicklung zum Dreher und später zum Informationselektriker und Wartungstechniker in verschiedenen Unternehmen (mit Betriebsratstätigkeit) war und ist Cangöz aber auch in seiner Freizeit aktiv. 1999 war er einer der Mitbegründer des Alevitischen Kultur- und Solidaritätsvereins Herzberg mit Sitz in der Hauptstraße.

Seit Juli 2000 ist Cangöz der Vorsitzende. Solidarität werde im Verein groß geschrieben, wie auch die Themen Umweltschutz, Tier- und Menschenrechte zur Lebensphilosophie gehören. Die Mitglieder unterstützen sich gegenseitig, unter anderem bei Behördenangelegenheiten oder anderen Problemen. Dem Verein gehören im Übrigen nicht nur Aleviten, sondern auch Menschen mit anderen Glaubensrichtungen an, so zum Beispiel auch Familien aus Herzberg, Bad Sachsa, Bad Lauterberg und Hamburg, aber auch Suniten. „Wir sind offen, wenn jemand unsere Satzung akzeptiert. Bei uns kann auch jeder seine Meinung frei äußern“, so Cangöz. Alle zwei Wochen treffen sich die Mitglieder. Politisch aktiv ist Cangöz seit dem Jahr 2000. Wie er augenzwinkernd sagt, habe er es anfangs mit der SPD probiert, als aber dann die Hartz IV-Gesetze verabschiedet wurden, wechselte er zu den Linken. Seit 2006 ist er im Rat der Stadt Herzberg.

 

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