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09.03.2022

Spinnstubenterror in Schwiegershausen


Landrat verhängt Strafen und droht mit Einsatz der Gestapo (geheime Staatspolizei)

...Wilhelm Sonntag

Ab wann es die Spinnstuben in Schwiegershausen gibt (auch Spindeldönzen genannt), ist nicht bekannt. Es handelt sich um eine alte gesellschaftliche Tradition, in der sich die Jahrgänge nach der Konfirmation trafen. Die Mädchen lernten dort in gemeinsamer Runde das Stricken und Spinnen.

Durchgeführt wurden die Spindeldönzen abwechselnd in den jeweiligen privaten Haushalten. Die Jungen trafen sich zu geselliger Runde in den Gastwirtschaften. In den Wintermonaten zur Faschingszeit kam hinzu, dass die Jungen dann zu späterer Stunde die Mädchengruppen besuchten. Insofern boten die Spinnstuben auch Möglichkeiten, um den Partner fürs Leben zu finden.

Aus den Kriegszeiten 1914/18 und 1939/45 gibt aus Schwiegershausen Berichte, in denen die Spinnstubenbräuche ausuferten. Ob es am vermehrten Zuspruch von Alkohol oder am Fehlen der väterlichen Strenge lag (überwiegend waren die Väter im Krieg), lässt sich nur vermuten.

Auszugsweise wird hier ein Schreiben des Landrats Hans von Schönfeldt (1933-1945) wiedergegeben:

….Ich werde mit unnachsichtlicher Strenge gegen Mißbräuche vorgehen, die von den Eltern nicht rechtzeitig genug abgestellt werden, und die sich die Jugend Schritt für Schritt erschlichen hat. Vor allen Dingen dann, wenn das Treiben der Jugend nicht mit den bestehenden Gesetzen vereinbar ist, wenn sie sich Frechheiten herausnimmt, die eigentlichen gerichtlich geahndet werden müssen, wenn die Jugendlichen die Grenzen des Frohsinns und des Scherzes weit überschreiten und sich wie schlecht erzogene Rüpel benehmen, die Eltern und die Mädchen durch widerwärtige Großmäuligkeit terrorisieren und das Abhalten der Spinnstuben zu einer kaum noch erträglichen Last für diejenigen machen, die dazu verdammt sind, sie bei sich  zu dulden, wenn sie nicht der Verfemung durch einige rüpelhafte Burschen verfallen wollen.

Welche Torheit und was für eine lächerliche Großmaulsucht ist es, wenn sich 13 dumme Jungen, denn etwas anderes sind sie noch nicht, in eine Gastwirtschaft setzen und zur Einweihung der Spinnstube 40 Liter Bier trinken, weil sie sonst nicht in Stimmung zum Randalieren kommen. Sie vertilgen sinnlos eine Menge Bier, die auch für einen Erwachsenen schon zu viel wäre. Sie vergehen sich mit Gleichmut auf das Schwerste gegen die bestehenden Jugendgesetze. Die sie genau kennen. Sie begehen Mundraub, weil sie diese freche Rüpelei in ihrer Trunkenheit für schneidig halten. Kurzum sie betragen sich in jeder Beziehung nicht so, wie es einem deutschen Hitlerjungen geziemt und es dem großen Ernst der Kriegszeit und ihrer Verantwortung entspricht. 
So benutzen diese lächerlichen Knaben von 16 bis 18 Jahren die Gelegenheit, wo ihrer Väter im Krieg sind, mit unverschämter Großmäuligkeit die anständigen und ruhigen Elemente zu verängstigen und zu terrorisieren. 

Der Beweis ist in Schwiegershausen bedauerlicherweise mehr als ausreichend erbracht, daß sie unter freiwilliger oder erzwungener Duldung der Eltern gar nicht daran denken, sich nach den gegebenen Gesetzen zu richten, die im Kriege besonders sorgfältig zu beachten sind. Die von mir im Sommer verhängten Strafen sind also anscheinend ohne jeden Einfluß geblieben. Und das alles, obwohl in der breitesten Öffentlichkeit, in der Presse und beim HJ-und BDM-Dienst immer wieder auf anständiges, den ernsten Zeiten und den Gesetzen entsprechendes Verhalten hingewiesen worden ist.

Wenn die Eltern so befangen und verängstigt sind - ich nehme das vorläufig noch zu ihren Gunsten an -, daß sie es nicht wagen, gegen die Raudis aufzutreten und ihr Hausrecht mit dem Peitschenstiel zu wahren, so beabsichtige ich als Landrat keineswegs, die andauernde Umgehung der Gesetze durch die Jugendlichen von Schwiegershausen noch weiter zu dulden, ich bin über ihre rüpelhaften Gebräuche gut genug unterrichtet und kann den jungen Herren von den Rollkommandos nur versichern, daß ich selbst sie so aufrollen werde, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Besonders den Eltern möchte ich sagen, daß ein derartiges Treiben absolut gar nichts mit der Überlieferung alter Gebräuche oder etwa mit Volksgemeinschaft zu tun hat. 
Wäre das der Fall, so müßten die Spinnstuben schon längst mit Stumpf und Stiel ausgerottet sein. Ich kann den Eltern den ganz schweren Vorwurf nicht ersparen, daß sie als Erziehungsberechtigte ihre Pflichten in der gröblichsten Weise verletzt haben. Sie sind den Gesetzen und der Hitler-Jugend durch ihr verdammenswertes Gewährenlassen auf schändliche Weise in den Rücken gefallen.

Der freche und dreiste Mundraub von fünf Schüsseln Pudding und Likör zeigt, daß mit diesem abscheulichen Treiben der Jugend Schluß gemacht werden muß. Es ist eine bodenlose Gemeinheit, dieser Familie die Sachen zu stehlen, da bekannt war, daß sie für die am nächsten Tage stattfindende Hochzeit benötigt wurden. Das ist kein jugendlicher Streich mehr, den man mit einem gewissen Humor verzeihen könnte. Es zeigt vielmehr eine Gesinnung, über die sich zweifellos der Staatsanwalt zu äußern hätte. Ich weiß, daß die lächerliche Entschuldigung am nächsten Tage, die der geschädigten Familie die entwendeten Speisen nicht wieder beschafft, ortsüblich ist. Sie soll nur den Terror verschleiern, ja nicht zu wagen den Diebstahl anzuzeigen. Wenn ich mit sehr großer und kaum noch vertretbarer Langmut nun aber auch zum letzten Mal davon absehe, die 13 Burschen vor Gericht zu stellen. um sie nicht unglücklich zu machen, so erkläre ich doch heute schon, daß ich diesem zügellosen Treiben nicht länger mehr zusehen werde. Höre ich noch einmal die geringste Klage, so werde ich drei Gendarme nach Schwiegershausen legen, die die Jugendlichen sowohl wie den verantwortlichen Eltern gegenüber mit der allergrößten Strenge durchführen werden.  

Ich hoffe sehr, daß mich Schwiegershausen soweit kennt, um zu wissen, daß ich Manns genug bin, um dort die Ordnung aufrecht zu erhalten.
Bei der Schwere der wiederholten Verfehlungen war ich gezwungen, bei der Jugend ein hohes Strafmaß anzuwenden. Das gleiche trifft aber auch für die Eltern zu. Sie sollen wissen, daß es kostspielig ist, wenn der Landrat in die Erziehung ihrer Kinder eingreifen muß, weil sie selbst zu nachgiebig sind. Wenn die Eltern im nationalsozialistischen Staate besonderes Ansehen genießen und wohlerworbene Rechte besitzen, so haben sie die doppelte Pflicht, ihre Kinder nicht verwildern zu lassen, sondern sie zu tüchtigen jungen Männern zu erziehen, die wissen, daß dem Gesetz und der Ordnung Achtung und Befolgung  entgegengebracht werden müssen.

Möge sich jeder Volksgenosse in Schwiegershausen ganz eindeutig darüber im klaren sein, daß wir uns nicht im Kriege 1914/ 18 befinden, wo sich derartige Vorgänge dem Vernehmen nach auch schon abgespielt haben, möge es jedem eine sehr ernste Warnung sein, den guten Ruf der sonst anständigen, fleißigen und ruhigen Gemeinde nicht aufs Spiel zu setzen. Es wäre tief bedauerlich, wenn in Schwiegershausen die geheime Staatspolizei (Gestapo) eingreifen müßte. Das wäre eine Schande für das Dorf, der, ich weiß es, die Gemeinde sich nicht aussetzen wird…..

Die Jungen erhielten jeweils eine Strafverfügung zur Zahlung einer Geldstrafe von 30 Reichsmark. Die Eltern hatten eine Geldstrafe in Höhe von 50 Reichsmark zu entrichten. Die Strafmandate wurden am 18.12.1941 zugestellt.  Das Weihnachtsfest war gelaufen.

Die Tradition der Spinnstuben wurde noch einige Jahre in dieser Art weitergeführt, bis sie durch zeitlichen Wandel durch andere Sitten abgelöst wurde.

Der Förderverein Dorfgeschichte und Brauchtum Schwiegershausen e.V. bietet wieder in den Wintermonaten im Hus in Dieke Spinnstubentreffen unter anderen Vorzeichen an.

In der vom Verein herausgegebenen Chronik hat Anneliese Grobecker die Spinnstubentradition näher beschrieben. 


Spinnstube Jahrgang 1898

 

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