Kultur / Rezensionen

26.11.2021

Von Lost Place Fotos inspirierte Geschichten


Lesetipps zur Adventszeit: Andrea Schrader, Roland Lange – Verborgenes Northeim

...KKHL Christian Dolle

Für die Adventszeit haben wir uns in diesem Jahr vorgenommen, vier Bücher vorzustellen, die mehr oder weniger mit Kirche, Glauben und Gott zu tun haben. Sozusagen für jede Kerze auf dem Adventskranz eines, vielleicht ja auch Geschenktipps für Weihnachten, vielleicht einfach als Inspiration. Darum geht es auch gleich mit dem ersten los: „Verborgenes Northeim“ von Andrea Schrader und Roland Lange.

Am nächtlichen Bahnsteig trifft Reinigungskraft Charly auf einen alten Mann, der dort allein auf einer Bank sitzt. Er warte auf den Zug, sagt der Alte. Der nächste komme erst am Morgen, versucht Charly ihm zu erklären, doch der Mann ist fest überzeugt, dass sein letzter Zug in dieser Nacht auf jeden Fall noch ankommen und ihn mitnehmen wird.

Diese metaphorische Geschichte ist einer von insgesamt fünfzehn recht kurzen Texten aus der Feder des Krimiautors Roland Lange im Bildband „Verborgenes Northeim“. Sie alle entstanden aufgrund von Fotos der Northeimerin Andrea Schrader, deren großes Hobby die Fotografie, insbesondere die Lost Place-Fotografie ist. Daher zeigen ihre Fotos, die sonst im Internet und in Ausstellungen zu sehen sind, unter anderem das Mausoleum auf dem Alten Friedhof, Tunnel auf dem Bahngelände oder Innenansichten des ehemaligen Krankenhauses. 

Von genau diesen ausdrucksstarken Bildern (meist in schwarzweiß, einige auch in Farbe) ließ der in Katlenburg lebende Autor sich inspirieren und schrieb jene Texte, die sich mal ernst, mal heiter, mal gruselig, mal gereimt um die Frage nach dem „Was bleibt?“ ranken. Was bleibt vom Lebensgefühl der Jugend, wenn die Welt sich in Jahrzehnten rasant verändert hat? Was bleibt von Rassismus und Vorurteilen, wenn man plötzlich einen Fremden, einen Menschen mit anderem Glauben und anderem kulturellen Hintergrund näher kennenlernt? Was bleibt vom Menschen, wenn der Körper leblos das Krankenhaus verlässt? Was ist mit der Seele, die sich aus medizinischer Sicht nicht feststellen lässt? „Der Glaube verlangt keine Beweise“ heißt es im entsprechenden Text, der sich  diesem Thema auf ungewöhnliche Weise nähert.

Es sind völlig unterschiedliche Geschichten, manchmal auch nur Gedanken, die die Fragen  zum Leben, zu Vergänglichkeit, zum Tod aufwerfen, sie aber letztlich gar nicht ausführlich beantworten wollen. Ebenso wie die Fotos Eindrücke und Stimmungen einfangen, die erst im Auge des Betrachters ihre volle Wirkung entfalten, vielleicht Erinnerungen wachrufen, vielleicht dem Blick für die verborgenen Schätze und möglichen Abenteuer in der Umgebung schärfen. 

Das gemeinsame Buch ist ein lange geplantes Projekt der beiden, sie taten sich mit Tobias Janus von der Buchhandlung Grimpe zusammen, um es zu verwirklichen. Anfangs war es für sie alle ein Wagnis, einen solchen Bildband mit immerhin mehr als 180 Seiten zu einem lokalen Thema zu veröffentlichen, ebenso wie die doch außergewöhnliche Kombination von Text und Bild. Herausgekommen ist ein Buch, das den Blick schärfen, kann,  ihn auf die Dinge lenkt, die vielleicht nicht sofort ins Auge fallen und das ermutigt, die eigene Umgebung genauer und aufmerksamer zu betrachten.

Für Andrea war es natürlich spannend, was Roland in ihren Fotos entdeckt, für ihn wiederum eine Herausforderung, so sagt er, weil es anders als beim Krimi ja kein von ihm geplantes Konzept, sondern eine Inspiration von außen war. Umso erstaunlicher ist, wie gut die Geschichten und die Fotos zusammen passen, andererseits aber auch dazu anregen, die eigene Fantasie schweifen zu lassen oder selbst über das Leben, über Vergänglichkeit, über Gott nachzudenken. 

Der alte Mann in der anfangs zitierten Geschichte erzählt Charly jedenfalls von seinem Leben, von Verpflichtungen, von verpassten Chancen und gibt ihm dann den Rat, die Erfüllung der eigenen Träume nicht zu lange vor sich herzuschieben, so dass es irgendwann zu spät sein könnte. Am Ende jedenfalls fährt sein Zug in den Bahnhof ein und holt ihn ab zu seiner letzten Reise. 

 

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