Panorama

11.09.2021

9/11 – War die Welt danach eine andere?


von Christian Dolle

Wisst ihr noch, wo ihr am 11. September 2001 wart? Jener Tag vor genau zwanzig Jahren als zwei entführte Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers in New York krachten und sie später zum Einsturz brachten.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich - damals studierte ich noch und wohnte noch nicht im Harz - in den Semesterferien meine Freundin Ari für ein paar Tage besuchte.

An diesem Vormittag hatte sie irgendetwas zu erledigen und ich bummelte durch die Goslarer Innenstadt. Irgendwann lief ich auch durch Karstadt und wunderte mich in der Technikabteilung, warum so viele Leute vor den Fernsehern standen. Es lief irgendein Actionfilm, dachte ich, einer mit einem Flugzeug und einer unfassbar surrealen Explosion im World Trade Center. 

Den Einschlag der zweiten von Terroristen entführten Maschine sah ich dann mit Ari zusammen bei ihren Eltern, doch es wirkte immer noch so unfassbar wie bei Karstadt mit lauter fremden und ebenso sprachlosen Menschen zwischen Nokia 3310-Handys und Werbung für Silent Hill 2. Es dauerte lange bis ich wirklich begriff, was da gerade passierte, doch mir war klar, dass es ein Ereignis war, was unsere Welt veränderte.

Mit den Kreuzzügen gegen den Terrorismus wie die USA sie in den folgenden Jahren praktizierten, hatte ich so natürlich nicht gerechnet. Auch nicht mit den Verschwörungstheorien, die bei vielen Menschen offenbar das Vertrauen in jede Regierung untergraben haben und sich offenbar bis heute zeigen. Naja und ich konnte auch nicht ahnen, dass Nokia und die Grafik von Silent Hill mir eines Tages mal so veraltet vorkommen würden, eben weil die Welt seit damals sich rasanter verändert hat als jemals zuvor. 

Roadtrip durch die USA

Doch das ist ein anderes Thema. Heute möchte ich mit euch zwanzig Jahre zurückreisen, das heißt eigentlich nur neunzehn Jahre. 2002 nämlich war ich zusammen mit meinem Bruder drei Wochen lang in den USA, wir haben einen Roadtrip an der Westküste entlang gemacht und hatten zuvor ein paar Tage einen Zwischenstop in New York eingelegt. 

„Ground Zero ist ein unglaublich großer Krater inmitten von Wolkenkratzern und einer belebten Stadt, bei dessen Anblick ich mir nicht vorstellen kann, dass hier noch vor einem Jahr das höchste Gebäude von New York City gestanden haben soll“, schrieb ich damals in mein Reisetagebuch, bei dem ich heute froh bin, dass ich die Disziplin aufbrachte, jeden Abend wenigstens einen kurzen Abriss des jeweiligen Tages zu schreiben. Doch lasst mich anders anfangen...

Unser Amerika-Trip war lange geplant und sollte eigentlich in Kalifornien starten. Drei volle Wochen mit dem Mietwagen einfach dorthin, wohin es uns spontan zieht. Mein Bruder suchte die Wurzeln des Hip Hop und ich den Duft der weiten Welt, der mir im kleinen Osnabrück fehlte. Relativ kurzfristig entschieden wir uns dann doch, die Reise in New York beginnen zu lassen und letztlich war es diese Stadt, die uns am meisten beeindruckte, mich in ihrer Vielfalt faszinierte und uns schon auch irgendwie einen kleinen Einblick in die Seele der größten Wirtschaftsmacht der Welt gewährte. 

Zu Fuß durch Manhattan

Unser erster Blick auf die Metropole bot sich vom Flugzeug aus, unter dem sich irgendwann das Häusermeer ausbreitete, allerdings erst einmal nicht mit der bekannten Skyline, sondern in schier endlos erscheinenden Vorortsiedlungen. In die eigentliche Großstadt tauchten wir mit dem Taxi ein, das uns zu einem erstaunlich günstigen Hostel in unmittelbarer Nähe des Times Squares brachte, das wir auch damals schon übers Internet gebucht hatten. Zu Fuß machten wir uns dann daran, die Umgebung zu erkunden, der Mietwagen kam erst später ins Spiel. 

„Überall um uns herum Wolkenkratzer, Neonreklamen, alles ist groß, bombastisch, typisch amerikanisch. Wir haben das Gefühl, in einer völlig eigenständigen Welt aus Fassaden, Werbung und Konsum zu sein, fühlen uns geradezu erschlagen von der Metropole“, schrieb ich am Abend. Times Square, Broadway und 42. Street lagen auf unserer Route, später dann auch der Central Park,  nunmehr eine grüne Welt inmitten der Stadt. „Wir könnten hier Wochen verbringen und würden diese Stadt nicht einmal ansatzweise verstehen“, fasste ich später zusammen. 

Einige Eindrücke setzten sich in drei Tagen, die wir dort waren, aber doch fest. Zum einen war da die an jeder Ecke spürbare Internationalität, die dem patriotischen Bild von Uncle Sam völlig konträr gegenüberstand. Dazu an vielen Leuchtreklamen und in zahlreichen Schaufenstern Slogans und Auslagen, die auf den 11. September im Jahr zuvor Bezug nahmen. John Lennons „Imagine all the people living life in peace“ war immer wieder zu lesen, dazwischen natürlich auch auffallend viele US-Flaggen als Zeichen des ungebrochenen Stolzes. 

Am zweiten Tag liefen wir tatsächlich fast die gesamte Halbinsel Manhattans ab. Vom Crysler Building bis zur Upper East Side und zurück bis zum Trump Tower – über dessen Bauherrn lasse ich mich hier jetzt nicht aus, dessen schlimmste Zeiten haben wir inzwischen ja zum Glück hinter uns.

Nur wo du zu Fuß warst, bist du wirklich gewesen, soll ja Goethe gesagt haben und auch, wenn er das moderne New York nicht kannte, konnten wir ihn darin nun wirklich bestätigen. Vom Empire State Building, nun wieder das höchste Gebäude der Stadt, hatten wir einen tollen Blick, in den Straßen unten sahen wir viel Alltägliches und da wir wegen der drückenden Hitze in den Häuserschluchten viel Durst, aber wenig Geld hatten, kamen wir in den Läden in kleinen Seitenstraßen auch ab und zu mit ganz normalen New Yorkern ins Gespräch.

Die Offenheit und das Interesse an unserer Herkunft – „are you from Sweden“ machte uns besonders stolz – und unseren weiteren Urlaubsplänen festigte mehr und mehr einen positiven Eindruck der Menschen hier, der so gar nicht zu dem sich abschottenden und rachsüchtigen Bild passte, das die Vereinigten Staaten mehr und mehr charakterisierte. 

Freiheitsstatue und Ground Zero

An Tag drei stand dann der Besuch der Freiheitsstatue und von Ground Zero an. Erstere enttäuschte mich, vor allem, weil schon die Überfahrt mit dem Boot eine rein touristische und damit überteuerte Angelegenheit war, für die nur der Blick auf die Skyline entschädigte. Nie vergessen werde ich allerdings das Gefühl, das ich am Rande dieser mehrere Stockwerke bis zu den U-Bahn-Strecken hinabgehenden Baustelle unvorstellbaren Ausmaßes hatte, wo vor wenigen Monaten ein bis heute nicht fassbarer Terroranschlag eines der Wahrzeichen der Stadt in Schutt und Asche gelegt hatte. 

„Einige Straßenecken weiter entdeckten wir das Schaufenster eines Klamottenladens, in dem noch alle Kleidungsstücke so dalagen wie unmittelbar nach dem Anschlag, voller Dreck und Schutt hinter einer zerbrochenen Scheibe, vor die einfach eine zweite gesetzt worden war, um diesen Schockmoment zu konservieren“, beschrieb ich ein weiteres Bild, das mir bis heute lebhaft vor Augen ist. Den Rückweg traten wir per Subway an, verzogen uns am Nachmittag in den Central Park und waren noch über Stunden auffallend schweigsam. 

Auf unserer weiteren Reise nach Los Angeles und San Francisco lernten wir immer wieder ausgesprochen freundliche und weltoffene Amerikaner kennen, während uns übertriebene Vorsicht und Misstrauen nur an den Flughäfen auffiel. Gerade rückblickend bleibt der Eindruck, dass die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in den USA damals ihren Anfang nahm. Allerdings ging das beängstigend konservative Denken, das heute bei vielen in den USA herrscht, nicht von der breiten Masse der Bevölkerung aus, sondern ist meiner Meinung nach zu einem großen Teil politisch genährter Hass. 

"Wir lassen uns nicht unterkriegen"

Den New Yorkern schien nach dem 11. September vor allem ein „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ und die sprichwörtliche Freiheit im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wichtig. Alles, was sich an Kriegen und Sehnsucht nach alter Stärke in den vergangenen zwanzig Jahren daraus entwickelt hat, könnte somit in erster Linie das Werk einiger weniger sein, die in einer Zeit der Unsicherheit Angst schürten, um ihren Einfluss und ihre Macht zu stärken. 

An dieser Stelle möchte ich den Text eigentlich beenden, denn sonst kann ich es mir nicht verkneifen, mich über die Parallelen hierzulande auszulassen. Hier glaube ich ja auch, dass der Schock von 9/11 sowie etliche andere Ereignisse genutzt wurden, um Angst und Hass zu säen, um Rassismus wieder salonfähig zu machen und neue Feindbilder zu kreieren. 

Nach wie vor halte ich die Mehrheit der Menschen, egal wo auf der Welt, für vernünftig, friedlich und eigentlich liebenswert. Doch ebenso nun mal auch manipulierbar, von Regierungen, von Medien und gerade in den letzten Jahren eben auch mehr und mehr von Einzelnen mit einem gewissen Einfluss, die eine ganz persönliche Agenda verfolgen. Die hatten es wohl noch nie so leicht wie heute und ich glaube auch, man sah noch nie so deutlich, welchen Schaden sie anrichten können. 

Darum lasst uns doch Ereignisse wie den furchtbaren Terroranschlag auf das World Trade Center als das nehmen, was sie sind, nämlich eine verabscheuungswürdige Tat einer kleinen Gruppe von Menschen. Aber es muss kein Indiz für eine große Weltverschwörung sein und auch keine Rechtfertigung für unbegründetes Misstrauen jedem Andersdenkenden gegenüber, für von tiefen Gräben durchzogene Gesellschaften und letztlich für sinnlose Kriege. 

Die meisten Menschen waren an diesem 11. September vor zwanzig Jahren ebenso entsetzt und sprachlos wie du und ich. Damit haben wir doch schon mal eine große Gemeinsamkeit, oder nicht?



 

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