Kultur / Federkiel

01.04.2021

Horrorgeschichte oder bissige Satire?


von Christian Dolle

Vieles, was im Moment in der Politik passiert, macht wirklich sauer. Einige regen sich in social media ausfallend über Korruption auf, andere beklagen das Versagen der Regierung, wieder andere wenden sich stattdessen jenen zu, die gleich grundsätzlich unser gesamtes System ablehnen. Und einige verarbeiten den Frust eben kreativ, künstlerisch, literarisch.

Zu Letzteren zähle ich mich selbst und die neueste Story auf meinem Youtubekanal sprudelte plötzlich aus mir heraus, wollte sozusagen unbedingt geschrieben werden. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob es eine reine Horrorgeschichte oder doch eher bissige Satire ist, doch das kann jeder selbst beurteilen. Als Hör-Version im Video oder eben in der geschriebenen Fassung. Viel Spaß oder auch frohes Gruseln.

 

Schleim 

Zum ersten Mal hatte er es vor etwa zwanzig Jahren gesehen. Ein glitschiger Klumpen schwarzen Schleims, den er nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte und der mit einem schlürfenden Geräusch hinter dem Kleiderschrank verschwunden war. Natürlich hatte er nachgesehen, hatte mit der Taschenlampe hinter den Schrank geleuchtet, doch dort nichts entdecken können. So schob er es auf seine Müdigkeit, zumal nur er es wahrgenommen hatte, während Irene ihm sagte, dass dort gar nichts war, er sich das Ding nur eingebildet hatte, vermutlich einfach nur überarbeitet war. Er hatte ihr zugestimmt, die Gänsehaut abgeschüttelt, die es auf seiner Haut unweigerlich verursacht hatte, das Licht gelöscht und war schlafen gegangen.

Damals war Georg Mahlstätter gerade in den Stadtrat gewählt worden. Hatte das Amt auf sich genommen, obwohl er eigentlich keine Zeit und ehrlich gesagt auch keine Lust auf solche Tätigkeiten hatte. Politik interessierte ihn im Grunde nicht, nur wollte er sich, seit er die Kanzlei seines Vaters übernommen hatte, eben irgendwie engagieren und so hatte er schließlich zugestimmt, sich auf die Wahlliste zu setzen. 

Seine Freude über die vielen Stimmen, die er bekommen hatte, hielt sich in Grenzen. Doch als es dann im Rat zur Abstimmung über die neue Umgehungsstraße kam, sein alter Jugendfreund Jürgen ihm im Vorfeld von seinen Sorgen erzählte, dass die genau an seinen neu erworbenen Grundstücken vorbeiging, die Grundstückspreise dadurch in den Keller gehen würden und er schließlich für eine Verlegung der Trasse gestimmt hatte, war ihm klar geworden, dass dieses Amt nicht nur Pflichten mit sich brachte. 

Wenig später hatte er Jürgen dann Baugrund zu einem Preis abgekauft, über den er vor anderen lieber nicht redete, hatte dort bauen lassen und das Haus schließlich zu einem sehr guten Preis wieder verkauft. Ungefähr in jener Zeit hatte er das Ding zum zweiten Mal gesehen. Wieder war es kurz vor dem Einschlafen, wieder rutschte es als dunkler, unförmiger Klumpen auf dem Boden herum, diesmal unter das Bett. So jedenfalls hatte er es sich eingebildet, hatte wie schon zuvor nachgesehen, aber nichts entdecken können. Übermüdung sagte er sich, zu viel Arbeit, der ganze Stress, seine Fantasie hatte ihm einen Streich gespielt. 

In den folgenden Wochen war es ruhiger geworden, seine Arbeit, sowohl die in der Firma als auch die politische wurde zur Routine, er schlief besser, sah das Ding zum Glück nicht mehr. Jedenfalls vorerst nicht oder nahm es schlicht nicht wahr. Doch dabei sollte es nicht bleiben. 

Nach etwa einem halben Jahr erkrankte der Fraktionsvorsitzende seiner Partei schwer, musste sein Mandat niederlegen, ein Nachfolger wurde gesucht. Inzwischen hatte Georg sich mit den Tätigkeiten im Rat angefreundet, er wusste, was er tun musste, damit es nicht allzu viel zusätzlichen Stress bedeutete, gefiel sich in der Rolle des Entscheiders, zumal sein Ansehen in seinem Bekanntenkreis dadurch nicht eben geringer geworden war, er auch als Anwalt mehr Respekt genoss als noch zuvor. 

Jetzt war er nicht mehr nur Mahlstätter Junior, der die namhafte Kanzlei seines Vaters in die nächste Generation führte, jetzt war er Ratsherr Mahlstätter, der als erfolgreicher Anwalt auch politisch Gutes für die Stadt tat. So sprach er mit Irene über seine Pläne und ließ sich schließlich für den Fraktionsvorsitz vorschlagen. Mit ihm warf leider auch Brandmüller seinen Hut in den Ring. Zwar hing für Georg nicht viel Herzblut an diesem Amt, doch gegen Oberschullehrer Brandmüller zu verlieren sah er irgendwie nicht ein, so dass er den anderen Parteimitgliedern bei einem Bier in ihrem Stammlokal erst einmal deutlich machte, welche Vorteile sie davon hatten, ihn und nicht den Versager Brandmüller zu wählen. 

An jenem Abend sah er das Ding erneut. Diesmal flutschte es unter der Kommode hervor, glitschte über den Boden und kroch dann langsam unter das Bett, quetschte sich darunter, so dass er sogar einen Ruck merkte als es den größeren Teil seines unförmigen, konturlosen Körpers schließlich darunter zog. Georg knipste sofort das Licht an, kniete sich mit der Taschenlampe vor das Bett und leuchtete darunter. 

Das Ding war noch da. Es presste sich am Fußende unter das Bett, waberte dort herum und Georg stieß einen Schrei aus als er eine Art Auge zu erkennen glaubte, mit dem es ihn anstarrte. Als Irene fragte, was denn los sei und sie wenig später widerwillig auch aufstand, um mit ihm gemeinsam nachzusehen, war die Kreatur allerdings verschwunden. Er meinte noch eine Schleimspur auszumachen, Irene versprach, morgen die Haushaltshilfe zu bitten, doch etwas gründlicher zu sein, mehr bekam er von dem Ding in dieser Nacht nicht zu sehen. Jedoch schlief er schlecht, wälzte sich im Bett unruhig hin und her, das Gesehene ließ ihn einfach nicht los. 

In den folgenden Wochen, Monaten, ja Jahren, wuchs ihm die Tätigkeit als Fraktionsvorsitzender immer mehr ans Herz. Es hatte mit dem Ansehen zu tun, dass er dadurch genoss, aber auch mit den Vorteilen die er sich zunutze machen konnte. Nach außen hin gab es so etwas wie Fraktionszwang natürlich nicht, doch nach außen machte es nun einmal auch immer einen guten Eindruck, wenn sie alle für oder gegen eine Sache stimmten, statt sich zerstritten zu präsentieren. Und Georg hatte durchaus einigen Einfluss auf die Disziplin innerhalb der Fraktion.

Den benötigte er umso mehr als in jenem neuen Wohngebiet, in dem auch er von seinem Freund  Jürgen ein weiteres Grundstück gekauft, ein Haus darauf gebaut und es seitdem gewinnbringend vermietet hatte, ein neuer Kindergarten gebaut werden sollte. Direkt neben Georgs Grundstück, wodurch der Mietpreis auf lange Sicht spürbar sinken würde. Gegen den Bau zu stimmen, kam natürlich nicht infrage, doch machte er sich für einen anderen Standort stark, überzeugte zunächst die Parteifreunde und zum Glück schließlich auch den Rat davon, dass so ein Kindergarten in der Innenstadt viel besser aufgehoben war, die Eltern konnte ihre Kinder schließlich dort absetzen, wenn sie ohnehin auf dem Weg zur Arbeit waren. 

In der Nacht nach der mit aller Kraft durchgedrückten Ratsentscheidung erwachte Georg, weil er etwas Schweres auf seinen Beinen fühlte. Als er die Augen öffnete, erblickte er den Schleimklumpen und war sich sicher, dass es ihn aus mehreren Augen ansah. Mit einem Schrei sprang er aus dem Bett, machte Licht, wodurch auch Irene wach wurde, doch da war die Kreatur oder was immer es war, auch schon wieder verschwunden. 

Dennoch tauchte es immer wieder auf, meist nach schwierigen politischen Debatten oder Entscheidungen. Zu gerne hätte Georg Irene geglaubt, dass es mit Stress und Überarbeitung zu tun hatte. Doch dafür erschien ihm das Ding viel zu real, zumal es eben auch zu wachsen schien und jedes Mal näher kam. 
Es war kurz nach seiner Wahl zum Landtagskandidaten als Georg mitten in der Nacht Atemnot erlitt und die schleimige Kreatur mitten auf seiner Brust sitzen sah. Nicht einmal schreien konnte er, sich nur hilflos herumwinden wie ein Käfer auf dem Rücken. Als Irene davon wach wurde, das Licht anknipste, war das Ding zwar verschwunden, doch er schweißgebadet, rang nach Luft und bekam in jener Nacht kein Auge zu. 
Noch eine Weile später berührte es zum ersten Mal sein Gesicht und es dauerte noch mehrere Tage bis er das glitschige, kalte Gefühl auf der Haut endlich wieder von sich abschütteln konnte. Das war kurz nachdem im Landtag über einem Standort für einen großen Windpark entschieden worden war. Der Baugrund dafür hatte eigentlich in der Nähe seiner Heimatstadt ausgeschrieben werden sollen, wie Georg erfahren hatte, doch zum Glück kannte er einen Landwirt, der im letzten Moment dafür gesorgt hatte, dass auf seinen Äckern eine seltene und vom Aussterben bedrohte Unterart des Feldhamsters entdeckt wurde. 

Von da an tauchte die Kreatur häufiger auf, kroch meist vom Fußende sein Bett hinauf, verharrte auf seiner Brust bis er schwer zu atmen begann und rutschte dann ganz langsam immer weiter bis zu seinem Gesicht hinauf. War sie anfangs noch verschwunden, wenn er das Licht eingeschaltet hatte, so blieb sie jetzt, er konnte das wabernde Innere des Schleims sehen und vor allem diese Augen, die ihn anstarrten und ihm das größte Unbehagen bereiteten. Irene hingegen konnte es nicht sehen, war überzeugt, er bilde es sich ein, fantasiere oder wolle sie zum Narren halten. 

Einige Wochen später dann berührte es nicht nur sein Gesicht, sondern auch seinen Mund, er schmeckte bitteren Schleim und als es tiefer in seinen Rachen kroch, war er sich sicher, auch etwas davon heruntergeschluckt zu haben. Sobald er sich wieder unter Kontrolle hatte, war er ins Bad gegangen, um sich so ausgiebig die Zähne zu putzen, doch das Brennen im Mund, im Rachen und auch die Speiseröhre hinunter blieb, setzte sich später sogar bis in den Magen fort. 

Tags darauf ließ er sich ärztlich untersuchen, doch es konnte nichts festgestellt werden, der Arzt verschrieb ihm schließlich nur etwas gegen Sodbrennen. Georg Mahlstätter war beunruhigt, zum ersten Mal seit Jahren, nein sogar seit Jahrzehnten fühlte er die Kontrolle über sein Leben zu verlieren, hatte den Eindruck, es mit etwas zu tun zu haben, was stärker war als er. 

Zudem musste er sich nun nach langen Parlamentssitzungen häufiger auf der Toilette erbrechen, es kam Blut mit, doch auch ein erneuter Arztbesuch brachte keinerlei Befunde. Er kämpfte lange mit sich, bevor er Irene zuhause sein Erbrochenes zeigte, sie jedoch konnte kein Blut erkennen, was er beinahe schon befürchtet hatte. 

Dafür aber hielt wenigstens das Wesen mehr Abstand, setzte sich anfangs noch immer auf seine Brust, beim nächsten Mal blieb es am Fußende und schließlich beobachtete es ihn nur noch aus der hinteren Ecke des Schlafzimmers. Vielleicht, so sagte Georg sich, war es ja doch nur Einbildung, der ganze Stress, da reagierte der Körper ja mitunter heftig und die Fantasie schlug hohe Wellen. 

So war er dann ganz froh als die politische Arbeit mit der Covid-Pandemie erst einmal ein wenig zurückgefahren werden musste. Es galt, nur noch die nötigsten Beschlüsse zu fassen, er musste nicht mehr zwischen seiner Heimat und dem Landtag pendeln und so sagte er sich, dass alles immer auch etwas Gutes haben konnte. 

Allerdings erschrak er umso mehr als ihm bei einer Videokonferenz plötzlich Schleim aus der Kehle in den Mund stieg, er ihn auch nicht wieder herunterwürgen konnte und somit nicht zu verhindern vermochte, dass er auch beim Sprechen aus ihm herausquoll. In Panik schaltete er die Webcam aus, doch später stellte sich zum Glück heraus, dass niemand etwas bemerkt hatte. Wahrscheinlich konnten sie alle den Schleim ebenso wenig sehen wie Irene, was ja dafür sprach, dass er sich doch alles nur einbildete. 

In den folgenden Wochen war Georg Mahlstätter abends meist zu erschöpft, um überhaupt wach zu werden, wenn er im Schlaf den Druck auf seiner Brust spürte oder er bitteren schwarzen Schleim aufs Kopfkissen sabberte. Viel zu sehr beschäftigten ihn all die neuen Regelungen, um die die Politik sich zu kümmern hatte, etliche Beschlüsse und nicht zuletzt eben auch die Frage, was denn werden würde. Diese Frage beschäftigte ihn sogar erstmals so sehr, dass er seinen eigenen Sorgen in den Hintergrund stellte.
Nun ja, nicht ganz. Immerhin trat bald eine Firma aus seiner Heimatstadt an ihn heran, die ihre Produktion innerhalb kürzester Zeit auf Schutzmasken umgestellt hatte und Georg nun bat, sie doch als Lieferant im Landtag weiterzuempfehlen. Gegen eine großzügige Parteispende selbstverständlich und auch eine ganz persönliche Wahlkampfunterstützung für Georg selbst. 

Bereits bei der nächsten Videokonferenz sprach er eine Empfehlung für eben dieses Unternehmen aus und war sehr mit sich zufrieden. Auch noch als es in der anschließenden Diskussion um die Hilfen für Soloselbstständige und Kulturschafende ging. Hier hielt Georg gerade ein Plädoyer für strenge Prüfungen im Vorfeld, damit am Ende niemand Geld bekam, das ihm eigentlich gar nicht zustand, als es passierte. 
Zuerst gab es ein Blubbern in seinem Bauch, er musste aufstoßen, wodurch ein Brennen seine Speiseröhre hinaufstieg, das ihn schon alle Überwindung kostete, sich nichts anmerken zu lassen. Doch es hörte nicht auf, rumorte stärker in seinen Eingeweiden und dann überkam ihn ganz plötzlich ein Würgereiz und er spuckte einen Batzen Schleim vor sich auf den Schreibtisch, auf die Tastatur und auch auf den Monitor. Alle hatten es gesehen, über die Webcam haargenau miterlebt, was passiert war und Georg wäre in diesem Augenblick am liebsten im Boden versunken. 

Zu seiner Überraschung reagierte jedoch niemand der anderen. Sie debattierten einfach weiter, stimmten seinem Antrag zu und taten sehr gekonnt so als sei überhaupt nichts geschehen. Zwar konnte Georg es nicht begreifen, griff aber hastig nach einem Taschentuch, wischte sich den Mund ab und über den Schreibtisch, die Tastatur und den Monitor.

Einem Impuls folgend versuchte er, die Schleimspritzer zu beseitigen, als könne er damit ungeschehen machen, was passiert war. Allerdings klebten die Spritzer am Taschentuch, klumpten sich dort zusammen und glitschten dann über den Stoff auf seine Hand, die zu brennen begann, und bevor er es verhindern konnte auch über seinen Arm, den Hals entlang, wo es noch mehr brannte und dann in sein Gesicht. Zuerst wollte er die Kamera ausschalten, doch es brannte so sehr, dass er sich mit beiden Händen ins Gesicht griff und zu kratzen begann. 

Auch das brachte nichts, dafür aber bekam er jetzt auch etwas von dem Schleim ins Auge, wo es sich anfühlte als stehe seine gesamte Augenhöhle in Flammen. Schnell rannte er ins Bad, versuchte, den Schleim mit Wasser auszuwaschen. Tatsächlich ließ das Brennen nach ein paar Minuten nach, verschwand zwar nicht, auch nicht von der Haut, wurde aber erträglicher. 

So setzte er sich zurück an den Computer, wollte der Sitzung weiter folgen. Als er wieder auf den Monitor blickte, konnte er allerdings nicht fassen, was er dort sah oder zu sehen glaubte. All seine Fraktionskollegen oder politischen Gegner schienen ihn aus schwarzen Augen anzustarren. Außerdem war ihre Haut mit bräunlich-grauem Schleim überzogen, genau wie jener Schleim, der auch ihn heimgesucht hatte. Das Schlimmste jedoch war, dass sie alle weiter redeten als sei nichts Ungewöhnliches passiert, als sei alles völlig normal.

Erneut stürzte Georg ins Badezimmer, sah in den Spiegel und auch seine Augen waren tiefschwarz und sein Gesicht, sein gesamter Körper über und über mit diesem Schleim überzogen. Es klebte, es brannte auf der Haut, es ekelte ihn an, so dass er einen panischen Schrei ausstieß, weil er zu keiner anderen Reaktion mehr fähig war. Sofort eilte Irene herbei, sah ihn an und fragte, was los sei. „Siehst du es denn nicht?“, rief er aufgelöst, „Siehst du den Schleim nicht?“ Sie schüttelte nur verständnislos den Kopf und meinte, er solle vielleicht doch weniger arbeiten, einmal Urlaub machen, mehr an sich selbst denken. 

 

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