Kultur / Federkiel

01.04.2020

Dealer meines Vertrauens


von Christian Dolle

Was unser öffentliches Leben ausmacht, wird uns erst bewusst, wenn wir es nicht mehr haben. Das spüren wir im Moment recht deutlich. Besonders spüren es auch die kleinen Einzelhändler vor Ort, die sich auf eine völlig neue Situation und vermutlich schwere Zeiten einstellen müssen. Viele von ihnen haben kreative Ideen, um ihre Kunden trotz Corona-Maßnahmen zufriedenzustellen.

 

Die folgende Satire soll mit einem Augenzwinkern darauf aufmerksam machen, was uns fehlen würde, wenn es all diese Einzelhändler in der Region nicht mehr gäbe. Auch diesmal gibt es die Geschichte zum einen zum Lesen, zum anderen auch zum Hören auf meinem Youtube-Kanal "CrYzZ Storys".

 

Ohne Bücher wäre das Leben wie eine wüste, leere Erde in der Zombieapokalypse. Die Zombies wären diejenigen, die nur das Nachmittagsprogramm im Privatfernsehen gucken oder reißerische Boulevardzeitungen lesen, und die Literatur jener Sehnsuchtsort, an dem die Sonne noch hell scheint und jegliche Art von Flora und Faune gedeihen kann. Na gut, man sollte so eine Metapher vielleicht auch nicht überstrapazieren. Was ich damit sagen will: ich lese schon immer gern, bin schon als Kind vollkommen in die Fantasiewelten meiner Bücher eingetaucht und brauche das auch heute noch als Ausgleich zum oft recht grauen Alltag.

Nun hatte ich das Glück, in direkter Nachbarschaft, also quasi um die Ecke von einer kleinen, gemütlichen inhabergeführten Buchhandlung zu wohnen. Manche Freunde behaupten sogar, ich sei nur deswegen überhaupt in diese Wohnung im siebten Stock in einem renovierungsbedürftigen Haus ohne Fahrstuhl gezogen, aber man muss im Leben nun mal Prioritäten setzen. Außerdem hat so ein Altbau ja immer auch eine ausreichende Deckenhöhe für meine übervollen Bücherregale, so dass daneben die einfach verglasten Fenster zur stark befahrenen Hauptstraße kaum ins Gewicht fallen. Wenn ich lese, könnte neben mir die Welt untergehen, ich bekomme eh nichts mit.
Wie gesagt war ich also Stammkunde in der Buchhandlung um die Ecke, wurde dort namentlich begrüßt, bekam oft sogar einen Kaffee angeboten, den ich trank, während die Buchhändlerin meines Vertrauens mir neuen Lesestoff empfahl und dabei meistens genau ins Schwarze traf. Apropos schwarz – auch dass ich meinen Kaffee ohne Milch aber mit einer Löffelspitze Zucker trank, wussten sie dort, das hatte selbst meine Frau in all den Jahren unserer Ehe noch nicht gelernt.

Mehrfach in der Woche suchte ich meine Dealer auf, um an neuen Stoff zu kommen, auf jeden Fall immer in Form eines echten Buches, denn e-Books haben für mich die gleiche Wirkung als setze man einem Drogenabhängigen plötzlich Traubenzucker vor die Nase. Gut, auch der Vergleich hinkt möglicherweise ein bisschen, doch schließlich will ich ja Bücher voller brillant formulierter Wahrheiten lesen und sie nicht selber schreiben. Darum nun zurück zur Geschichte.

Einen riesengroßen Schreck bekam ich vor ein paar Wochen als an der Tür meiner Buchhandlung plötzlich ein Schild hing, auf dem in großen Lettern stand: „Wegen Umbau geschlossen“. Sofort überfiel mich eine fürchterliche Angst, der kleine, gemütliche inhabergeführte Laden könne in eine dieser seelenlosen Filialen einer großen Kette umgewandelt werden, in der es mehr Lesezeichen und andere Geschenkartikel als Bücher gibt. Doch es sollte sogar noch schlimmer kommen.
Bevor die Buchhandlung wieder eröffnete, musste ich erst einmal eine andere aufsuchen, im Internet bestellen oder auch ab und zu mal wieder in die Bibliothek gehen. Es war eine Zeit der Entbehrung, denn, um auf das etwas schiefe Bild von vorhin zurückzukommen, es fühlte sich an als bekäme ich statt meiner gewohnten Droge plötzlich nur noch Methadon. Der Zweck war derselbe, doch die Umstände eben nicht.

Dann endlich eröffnete meine Buchhandlung wieder und gleich am ersten Tag machte ich mich bereits um Viertel vor sieben auf die Socken. Ja, ich weiß, zuvor hatte der Laden immer erst ab neun Uhr geöffnet, doch von nun an wurden Öffnungszeiten rund um die Uhr, also 24 Stunden am Tag versprochen. Auch vieles anderes sollte sich verbessert haben, hatte es auf einem Plakat geheißen. Da war ich natürlich neugierig.

Als erstes fiel mir jedoch auf, dass hinter der Ladentheke inzwischen nicht mehr die Buchhändlerin meines Vertrauens auf mich wartete, sondern ich von einem modernen Roboter mit blinkendem Display auf der Brust empfangen wurde. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, fragte er mit blecherner Stimme und ich war doch einigermaßen irritiert. „Ähm, ich möchte ein Buch kaufen...“, stammelte ich ungelenk. „Im Verzeichnis Bücher habe ich eine Million, zweihundertachtundneunzigtausend fünfhundertvierundsechzig Treffer. Zudem können wir Ihnen noch zwölf Millionen siebenhundertdreiundzwanzigtausend dreihundertachtundvierzig andere Produkte anbieten.“

Es dauerte eine Weile bis ich diese beeindruckenden Zahlen verarbeitet hatte. Aus dem Augenwinkel warf ich einen schnellen Blick in Richtung des Vorhanges, der bisher immer die Teeküche und das Lage für bestellte Bücher vom eigentlichen Verkaufsraum abgetrennt hatte. Der Vorhang war einer elektrischen Glastür gewichen, dahinter sah ich schier endlose deckenhohe Regalreihen, alle voll mit braunen Kartons voller Ware. Offenbar hatten sie mehr modernisiert als ich im ersten Augenblick für möglich gehalten hätte.

„Ähm...“, erlangte ich meine Fassung nur schwer zurück, „haben sie zufällig 'Die Unerleuchteten, Band sieben' da?“ Auf dem Display auf der Brust des Buchhandelsroboters liefen einige Zahlen durch, dann antwortete er: „Selbstverständlich. Das Buch ist innerhalb von drei Werktagen lieferbar, gegen einen geringen Aufpreis von zwanzig Prozent können sie aber auch unseren Overnight-Service nutzen, dann liegt das Buch morgen für Sie bereit.“ Viel zu beeindruckt und überfordert von all dem Neuen sagte ich zu. „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch: das Computerspiel 'Day after Dekay' und den Teddy 'Böses Bärchen'“, gab mir der Roboter noch mit auf den Weg.

Bevor meine Bestellung dann endgültig aufgenommen wurde, musste ich mich noch mit einigen Daten im System registrieren, gab bereitwillig meine Schuhgröße und den Termin meines letzten Termin beim Urologen an, dann verließ ich die Buchhandlung und fragte mich, ob all das gerade wirklich passiert war. Vor lauter Schreck konnte ich mich zuhause auf kein Buch konzentrieren, so dass ich schließlich das Nachmittagsprogramm im Privatfernsehen einschaltete, den Kaffee mit Milch, den meine Frau mir brachte, kommentarlos trank und mir in der Glotze derart absurde Pseudo-Reality-Shows ansah, dass ich vermutete, ein Zombie müsse die Drehbücher geschrieben haben.

Dennoch stand ich am nächsten Morgen wieder tapfer vor meiner Buchhandlung, um meine Bestellung mit dem Overnight-Service abzuholen. Diesmal schon um vier Uhr in der Früh, denn da hatte ich über die App eine Nachricht bekommen, dass mein Buch nun ausgeliefert sei und zudem eine Empfehlung, dass es auch einige neue Schuhe in meiner Größe gebe.
Der Buchhandelsroboter stand mit wohl freundlich blinkender Brust hinter dem Tresen. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, fragte er. „Ich wollte mein Buch abholen“, sagte ich, worauf er mich aufforderte, mich zunächst ins System einzuloggen. Dazu tippte ich meinen Nickname und ein Passwort, das ich gestern bekommen hatte, auf seiner Brust ein und kam mir dabei zugegebenermaßen schon ein bisschen blöd vor. „Guten Tag CrYzZ. Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Roboter nun erneut. „Ja, also, ich wollte mein Buch abholen.“

Prompt drehte er sich zur Glastür des Lagers und rief: „Die Bestellung für CrYzZ, der vor fünfzehn Monaten zuletzt beim Urologen war, bitte.“ Daraufhin sah ich einen kleinen buckligen Gnom durch die Regale eilen, hinter ihm eine hochgewachsene Frau im Outfit einer Amazone, die ihn dabei mit einer Peitsche zur Eile antrieb. Wenig später brachte der Gnom dem Verkaufsroboter einen Zettel. Der händigte ihn mir aus und erklärte: „Sie können Ihre Bestellung jetzt beim Hauptpostamt am anderen Ende der Stadt abholen.“

Einigermaßen irritiert fragte ich: „Bei der Post? Warum das denn?“ Einige Zahlen im Brustdisplay, dann sagte er: „Ihre Bestellung traf um genau drei Uhr achtundfünfzig ein, da wir Sie zu dieser Zeit hier nicht angetroffen haben, wird Ihre Sendung noch für zwanzig Minuten beim Hauptpostamt am anderen Ende der Stadt hinterlegt.“ Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich die U-Bahn gerade noch erwischen konnte, um rechtzeitig da zu sein. Zuvor musste ich allerdings noch bezahlen und kramte mein Portemonnaie hervor.

„Die Kosten für Ihre Bestellung wurden bereits von Ihrem Konto abgebucht. Vielen Dank“, sagte daraufhin der Roboter und fügte noch hinzu: „Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch: das Computerspiel 'Day after Dekay' und den Teddy 'Böses Bärchen'. Wir haben diese Produkte Ihrem Warenkorb bereits für Sie hinzugefügt. Sie können diese Bestellung natürlich stornieren, dann verpassen sie aber die U-Bahn.“ Passend dazu blinkte auf seinem Display nun ein Emoji mit herausgestreckter Zunge.

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