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18.02.2017

Das Sanatorium Kapitel 7


Im Haus Helene filmen Gideon und die anderen unterdessen weiter und setzen sich dabei mit der der dunklen Geschichte des Sanatoriums auseinander. Doch Unachtsamkeit rächt sich.

Kapitel 7 - Patienten und Peiniger

von Christian Dolle

„Auch in Zeiten der DDR hat es in Anstalten wie dieser immer wieder Experimente mit Menschen gegeben“, sagte Gideon in die Kamera, „vor allem auf Wunsch und damit natürlich gegen nicht gerade wenig Kohle der westdeutschen Pharmaindustrie sollen immer wieder neue Medikamente getestet worden sein, ohne dass die Probanden jemals ihre Einwilligung dazu gegeben hätten. Möglicherweise ist das der Grund, warum es hier immer wieder zu angeblichen Geistersichtungen kam, weil nämlich die geschundenen Seelen der Patienten keine Ruhe finden können – oder die ihrer Peiniger.“

Er gab das Zeichen zum Cut und Kim schaltete die Kamera aus. „Hey, das ist echt creepy. War auf jeden Fall die richtige Entscheidung, das nachts zu drehen.“ Creepy sei vor allem, dass solche Zahlungen wohl keine Seltenheit gewesen waren, meinte Gideon, er hatte einiges darüber gelesen und inzwischen war ein großer Teil seines Vertrauens in das Gesundheitswesen ins Wanken geraten. „Außerdem glaube ich, dass sich an der Mentalität  der Hersteller bis heute nichts geändert hat“, stimmte Acy ihm zu, „denen geht es zuerst ums Geld und erst in zweiter Linie darum, Krankheiten heilbar zu machen und Menschen zu helfen.“

Sarah legte ihr eine Hand auf den Arm und fragte, ob sie nicht lieber mal nach Nico sehen sollten. Die anderen stimmten ihr zu und steuerten gemeinsam auf die Treppe zu. Diesmal gingen sie vorsichtig, testeten bei jedem Schritt erst einmal, ob die Stufen ihr Gewicht auch hielten. In der nächsten Etage waren die Flure etwas breiter, alles sah weniger nach Klinik aus als unten. Ein verblichenes Schild sagte ihnen, warum. Dies war der ehemalige Verwaltungstrakt und es standen sogar noch einige Aktenschränke herum.

Kim öffnete sofort Türen und Schubladen und stöberte darin herum. „Wäre doch super, wenn wir noch alte Patientenakten finden würden“, erklärte er. Auch die anderen durchsuchten einige Schränke, die natürlich allesamt leer waren. Solche Dokumente wurden peinlich genau vernichtet und selbst wenn nicht, hätte sie inzwischen mit Sicherheit jemand entdeckt und mitgenommen. Trotzdem war es spannend, in die Geschichte des Sanatoriums einzudringen, vor allem, weil es eine relativ düstere war.

„Anstaltsleitung“ stand auf einem emaillierten Schild an einer der Türen. Vorsichtig drückte Acy die Klinke herunter und trat ein. Die anderen dicht hinter ihr. Der Raum war holzvertäfelt, hier und da standen windschiefe Regale herum und an den Wänden ließen sich noch verblichene Umrisse von  Bildern erkennen, die hier einmal gehangen hatten. Außerdem stand in der Mitte des Raumes tatsächlich ein halb verrotteter Schreibtisch und dahinter ein gammliger Bürosessel, dessen hohe Rückenlehne zu ihnen gedreht war.

Still starrten sie alle darauf als der Stuhl sich plötzlich ganz langsam drehte. Kim sog hörbar die Luft ein und Meena ging instinktiv einen Schritt rückwärts. Sarah fasste mit der einen Hand Acys und mit der anderen Gideons. Mit einem altersschwachen Ächzen drehte sich der Sessel weiter, während sie alle nur wie angewurzelt dastanden. „Buh!“, rief Nico laut und beobachtete genüsslich, wie sie alle zusammenzuckten und die Augen voller Panik weit aufrissen. Der Schreck hatte gesessen, war ihnen merklich in die Glieder gefahren.

Nico hingegen lachte und konnte kaum mehr aufhören. „Du blöder Arsch!“, fluchte Kim, der als erster die Sprache wiederfand. „Das ist nicht witzig“, meckerte auch Meena. „Ach, kommt schon, habt ihr jetzt echt erwartet, dass hier der Geist des Anstaltsleiters auf euch wartet?“ Natürlich nicht. Nicht ernsthaft jedenfalls. Aber vollkommen ausgeschlossen hatten sie diese Option auch nicht.

Erst einmal schweigend gingen sie weiter, erkundeten noch andere Büroräume und entdeckten in einem tatsächlich noch einen Schrank mit alten Aktenordnern. Sie waren im Laufe der Jahre feucht geworden und rochen muffig, außerdem waren viele der Seiten verblichen oder verdreckt. Interessante Informationen enthielten sie außerdem nicht, das meiste waren belanglose Informationen zu verschiedenen Medikamenten, amtliche Mitteilungsblätter oder andere allgemeine Papiere. Die direkt mit der Klinik zusammenhängenden Dokumente und vor allem alle individuellen Krankenakten waren selbstverständlich längst entsorgt worden oder lagerten irgendwo in einem Archiv.

„Kommt schon, hier ist nichts mehr“, stellte Kim fest, „wir sollten lieber nach dem Dachboden oder Keller suchen. Da wohnen Geister doch am liebsten, oder nicht?“ Acy konnte sogar schon wieder darüber lachen. „Eigentlich muss so ein Leben als Geist auch ziemlich langweilig sein. Zumindest solange nicht ab und zu ein paar Leute vorbeikommen, die sich in deinem zerfallenen Haus umsehen.“ „Langweilig? Das denkst auch nur du. Fast jede Nacht kommen hier alle Geister aus der Nachbarschaft vorbei und feiern wilde Partys. Für die ist das der angesagteste Laden im ganzen Harz!“

Kim und Acy kicherten über die Vorstellung und Gideon und Meena fielen mit ein. Immer detaillierter malten sie sich aus, wie die Geister sich durch ihre übersinnlichen Fähigkeiten ohne Probleme die richtige Musik für ihre Party aus dem Netz saugen, Regenwasser in Bier verwandelten und es richtig krachen ließen. Dabei ging es zwischen Geistermännern und Geisterfrauen hoch her, denn weltliche Moral galt im Jenseits ja nicht mehr. Nur ob Geister Kinder zeugen konnten, darüber wurden sie sich nicht einig, Gideon war fest davon überzeugt, dass man sich nach dem Tod die Verhütung sparen konnte, während Kim beteuerte, es müsse auch Geisterkinder geben, die sogenannten Quälgeister.

„Ihr solltet euch nicht nur lustig machen. Ich denke schon, dass es vieles gibt, wofür wir in unserer rationalen Welt keine Erklärung haben und unter anderem auch Geister“, meinte Sarah schließlich, „und wenn es sie gibt, dann definitiv auch böse Geister.“ Die anderen hörten auf zu kichern und dachten darüber nach. „Jemand, der als Mensch ein Arschloch war, würde sich als Geist nicht so ohne weiteres ändern, schätze ich“, stimmte Acy ihr zu. „Also die Nazis, die hier ihre Versuche an Menschen durchgeführt haben, wären auf jeden Fall zu richtig fiesen Geistern geworden“, vermutete Gideon. Auch Kim nickte und sagte dann mit einem bitteren Lächeln: „Und dass der Geist der Nazis noch lebt, erleben wir gerade heute leider wieder allzu oft.“

Sie hatten das Ende des Ganges und damit die Treppe zum Dachboden hinauf erreicht. Sie war schmaler als die anderen Treppen, ihre ebenfalls hölzernen Stufen längst nicht so ausgetreten wie die anderen. Möglicherweise gab es dort oben doch noch etwas zu entdecken, was schon lange niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte. Als ob sie den anderen beweisen wollte, dass sie doch nicht so ängstlich war, wie es den Anschein hatte, ging diesmal Sarah voran. Die anderen folgten ihr in einigem Abstand.

Mit einem Mal knackte es unheilvoll und bevor sie reagieren konnte, sackte Sekundenbruchteile später das Holz unter Sarah weg und fiel krachend in die Tiefe. Sie hielt sich am wackeligen Geländer fest, um nicht vollkommen den Halt zu verlieren. Außerdem war Nico, der hinter ihr ging, umgehend bei ihr, packte sie um die Hüfte und zog sie zu sich und dann langsam wieder nach unten. „Alles okay?“, fragte er, während die anderen nach dem Schock noch die Luft anhielten und kaum reagieren konnten.

„Aua, nein, nichts ist okay“, rang Sarah um Fassung, „ich dachte gerade, die Hölle tue sich unter mir auf und will mich verschlingen. Außerdem hab ich mir irgendwie das Bein verdreht. Mein Knöchel tut weh.“ Sie versuchte aufzutreten und verzog dabei das Gesicht. Für einige Augenblicke herrschte Schweigen und sie alle dachten dasselbe. „Okay, dann sollten wir besser zurück zum Campingplatz gehen und dich vielleicht besser sogar in ein Krankenhaus fahren.“ Die anderen stimmten zu, deutlich vernunftbestimmt und ihre Enttäuschung verbergend.

Sarah schüttelte den Kopf. „Kommt nicht in die Tüte. So schlimm ist es auch nicht und außerdem hat Nico mich ja aus dem Höllenschlund gerettet.“ Derart offensiv hatte Acy ihre beste Freundin selten erlebt, doch sie kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie so etwas nicht voreilig sagte. Sie wollte den anderen das Abenteuer nicht verderben und wusste nur zu gut, wenn sie jetzt gingen, würde sie lange auf eine weitere Gelegenheit warten, um mal wieder ein leerstehendes Haus zu erkunden. „Bist du sicher, dass du laufen kannst?“, erkundigte sie sich dennoch besorgt. „Laufen vielleicht nicht, aber auftreten schon“, erklärte Sarah mit fester Stimme, „Allerdings schlage ich vor, dass wir den Dachboden auslassen und uns gleich auf den Weg in den Keller machen. Da falle ich dann wenigstens nicht so tief.“

Kurz beratschlagten sie noch, ob sie es wirklich verantworten konnten, doch da Sarah nochmals versicherte, es sei nicht so schlimm und Nico ihr anbot, dicht bei ihr zu bleiben und sie zu stützen, entschieden sie sich gegen einen Rückzug. Vorsichtig und jetzt auf jeden ihrer Schritte genau achtend, machten sie sich auf den Weg nach unten. Nach ganz unten.


 

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