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11.02.2017

Das Sanatorium - Kapitel 6


Während die anderen sich in der alten Heilanstalt umsehen, ist Jacky in die Stadt gefahren, um vielleicht doch noch jemanden zu finden, der ihr Auto repariert. Allerdings könnte sich das als verhängnisvoller Fehler erweisen.

Kapitel 6 - Überredungskünste

von Christian Dolle

In der kleinen Stadt war nicht mehr viel los. In einigen Fenstern brannte noch Licht, doch auf den Straßen herrschte gähnende Leere. Was hatte sie im Harz auch anderes erwartet, schalt sich Jacky und unterdrückte die Wut, die in ihr aufkam. Schon die schmale Straße durch den Wald hatte sich endlos hingezogen und sie hatte sich mehrmals gefragt, ob es richtig war, einfach alleine loszufahren. Wäre der Weg über den Staudamm nicht gesperrt, mochte ja alles kein Problem sein. So allerdings war sie ewig unterwegs, und das im Grunde nur, weil sie Nico beweisen wollte, dass sie sich nicht bevormunden ließ.

Vielleicht war es albern gewesen, überhaupt herzukommen. Was versprach sie sich davon? Schließlich hatte er eine Freundin, die er für sie nicht aufgeben würde, zudem lebte sie in London und damit eine Ewigkeit von ihm entfernt. Zu viel, selbst für eine Affäre. Vielleicht hatte sie auch nur wissen wollen, was zwischen ihnen war und wie es sich anfühlte.

Als sie ihn vor zwei Jahren bei der Fortbildung kennengelernt hatte, war sie sofort seinem Charme und seiner draufgängerischen Art verfallen. Sie hatte erst lange mit ihm an der Bar gesessen und dann eine Nacht mit ihm verbracht, die sie seither nicht vergessen hatte. Seitdem war sie ihm noch einmal bei einer Tagung für Hotelfachleute in Hamburg begegnet und wieder hatten sie unvergessliche Stunden in einem Hotelbett verbracht. Dass er damals schon auch andere Freundinnen hatte, störte sie damals wie heute wenig, schließlich wollte sie ihn nicht gleich heiraten.

Trotzdem hatte sie sich das Wochenende anders vorgestellt als auf einem heruntergekommenen Campingplatz im Nirgendwo, bloß weil er Angst hatte, dass ihn in einem Hotel jemand kannte und seine Beziehung dadurch Schaden nehmen könnte. Nicht einmal Handyempfang hatten sie dort draußen, konnten sich nichts zu Essen bestellen und die Vorstellung, mit völlig Fremden am Lagerfeuer zu sitzen, hatte sie von Anfang an nicht gerade begeistert.

Immerhin hatte dieser Gideon sein Auto rausgerückt, eine alte Kiste zwar, um die er sich sowieso keine Gedanken machen musste, dass sie sie nicht zurückbrachte, gut genug aber, damit sie ihrem Schicksal wenigstens für eine Stunde entkommen konnte. Während sie auf den Hof einer Tankstelle fuhr, packte sie nun allerdings die Neugierde und sie zückte ihr Smartphone. Schnell hatte sie den Kanal von Gideon gefunden und klickte sich durch einige seiner Videos.

Zugegeben, einige davon waren nicht einmal schlecht gemacht. Manches waren die typischen Let's Plays, die sie noch nie interessiert hatten, doch er erzählte auch moderne Horrorlegenden und ging ihrem Wahrheitsgehalt auf den Grund und filmte immer wieder in leerstehenden Gebäuden wie diesem Sanatorium und verpackte auch das meist in eine etwas mystische Stimmung zwischen Abenteuergeschichte und Geistererzählung.

In einem Video filmte sich Gideon in einem alten, ausgebrannten Kinosaal und erzählte von dem ehemaligen Lichtspielhaus, das zunächst etliche Jahre leer gestanden hatte, weil die Besitzer sich nicht um das Objekt kümmerten. „Es verfiel immer mehr und eines Nachts schrillten in der Stadt plötzlich die Alarmsirenen“, erzählte Gideon während er zwischen verkohlten Sitzreihen hindurchging, „Der Brand konnte schnell gelöscht werden, doch schon wenige Stunden später brach erneut ein Feuer aus, das das Gebäude diesmal fast vollkommen zerstörte. Bis heute weiß niemand so genau, was in dieser Nacht passiert ist, ob es ein sogenannter warmer Abriss war oder ob ein Feuerteufel es auf ein Duell mit der Feuerwehr angelegt hatte.“

Ein wenig ärgerte Jacky sich jetzt, um jeden Preis ihren Willen durchgesetzt zu haben und nicht doch mitgegangen zu sein. Mochte es noch so kindisch anmuten, besser als den Abend schmollend in diesem ausgestorbenen Kaff zu verbringen, war es allemal. Wenn sie nun schon einmal hier war, wollte sie aber wenigstens noch etwas erreichen.
Hinter dem Verkaufstresen der Tankstelle stand ein bulliger Typ mit Basecap, der sie jetzt von oben bis unten musterte. Obwohl Jacky wusste, wie sie auf Männer wirkte, waren ihr seine Blicke unangenehm. Es waren diese Sorte Blicke, mit der Männer Frauen nur als Beute wahrnehmen und damit eben oft auch zu rücksichtslosen Jägern werden.

„Entschuldigen Sie“, bemühte sie sich, möglichst cool und gelassen zu bleiben, „mein Freund und ich sind auf dem Campingplatz an der Talsperre und wir hatten eine Autopanne. Gibt es hier wohl jemanden, der sich das mal ansehen kann?“ Der Typ brauchte einen Moment, bevor er reagierte. Dann sagte er: „Und das muss unbedingt noch heute sein oder wie?“ „Sehen Sie, ich muss morgen meinen Flug in Hannover bekommen. Also wäre es schon echt praktisch, wenn das Auto so schnell wie möglich wieder fahrbereit ist.“

Sein überhebliches Grinsen sollte ihr wohl zeigen, dass sie als Frau sowieso nicht einschätzen konnte, wie lange eine Reparatur dauerte, während er als Meister seines Faches fast schon von hier aus sagen konnte, was genau kaputt war. „Ist ziemlich spät, um noch wen zu finden, der das macht“,  hielt er sie hin. Immerhin war es kein rigoroses Nein. „Ja, ich weiß“, schaltete Jacky in einen säuselnden Sprachmodus, „es wäre wirklich furchtbar nett, wenn sich trotz der späten Stunde noch jemand bereiterklären würde.“

Sie spürte, wie die Augen des Mannes sich dabei förmlich in ihrem Dekolleté festsaugten und war sich jetzt fast sicher, ihn um den Finger wickeln zu können. „Das sind dann aber Sonderleistungen und ich kann nicht dafür garantieren, dass der Fehler bis morgen früh behoben werden kann.“ Sie traue ihm das durchaus zu, setzte Jacky noch einen oben drauf und hoffte nur, nicht zu dick aufzutragen. „Wissen Sie, ich weiß sowieso nicht, was ich die ganze Zeit über machen soll, mein Freund und ein paar andere sind auf dem Weg zu dem alten Sanatorium, das kann dauern.“

Zu spät registrierte sie, wie die Gesichtszüge des Typen geradezu versteinerten. Nicht die Erwähnung ihres Freundes, sondern das Sanatorium hatte ihn erstarren lassen, fast so als habe sie etwas furchtbar Böses laut ausgesprochen. „Im Haus Helene?“, fragte er in nun scharfem Ton nach, „Was wollen die da?“ Zögerlich suchte Jacky nach den richtigen Worten, wusste sie doch nicht, was daran so schlimm sein sollte. „Ach, sie wollten es sich nur ansehen. Nur von außen natürlich. Wahrscheinlich sind sie auch schon längst wieder zurück.“

Beruhigen konnte sie ihn damit nicht, vielmehr wussten sie beide ganz genau, ihre Worte waren eine verzweifelte und ziemlich plumpe Lüge. „Es ist besser, Sie gehen jetzt“, sagte der Mann in einem Ton, der weder Widerspruch noch Nachfragen zuließ. Irritiert verließ Jacky den Tankstellenshop, stieg in ihr Auto und fuhr davon. Da sie überlegte, ob sie zurück zum Campingplatz oder zu einer anderen Tankstelle fahren sollte, bekam sie nicht mehr mit, wie der Mann sobald sie draußen war, sein Handy zückte und äußerst aufgeregt mit dem Teilnehmer am anderen Ende der Leitung sprach.



 

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