Kultur / Rezensionen

15.04.2017

Unbequemer literarischer Wutausbruch


Mit „Erschlagt die Armen“ stellt Shumona Sinha das europäische Asylsystem an den Pranger

von Christian Dolle

Shumona Sinha wurde in Kalkutta geboren, ging als Englischlehrerin nach Frankreich und arbeitete dort später als Dolmetscherin bei der Asylbehörde. Diesen Job verlor die Autorin nach der Veröffentlichung ihres Buches „Erschlagt die Armen“, das zum Skandalroman über das europäische Asylsystem wurde. Es ist heute noch so aktuell wie zu seinem Erscheinen, eher noch brisanter, da sich seitdem nicht viel verbessert hat. Und es ist nach wie vor ein unbequemer und sperriger literarischer Wutausbruch, der dem Leser einiges abverlangt.

Ebenso wie die Autorin selbst ist die Hauptfigur Dolmetscherin, vor einigen Jahren aus Indien nach Europa gekommen und nun das Bindeglied zwischen Einreisenden und den für sie zuständigen Beamten. Weder der einen noch der anderen Seite gehört sie an, die Menschen aus ihrer Heimat halten sie für eine, die es geschafft hat, für die meisten Kollegen in der Behörde bleibt sie die dunkelhäutige Fremde, die sie nur als Übersetzerin wahrnehmen.

Was sie übersetzt, sind einstudierte, erfundene Geschichten, mit denen die asylsuchenden ihre Bleibechancen zu erhöhen hoffen, denn die echten, ehrlichen Geschichten von Armut und Perspektivlosigkeit reichen dazu nicht aus. So werden sie alle zu politisch Verfolgten, tauschen ihre wahren Wurzeln gegen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein. All diese Lügen reiben die Erzählerin so auf, dass sie eines Tages einem Migranten, der sie in der Metro anspricht, eine Weinflasche über den Kopf schlägt.

Zu einer Weinflasche hat Shumona Sinha nicht gegriffen, sie lässt ihrem Zorn in diesem Buch freien Lauf und entlarvt ein System, das Lügen fordert, um Menschlichkeit zu gewähren, das Armut nicht als Not anerkennt und sich von der Wirklichkeit entfernt, um zu funktionieren. Bereits 2011 erschien „Erschlagt die Armen“ in Frankreich, 2015 wurde es auf Deutsch veröffentlicht und traf damit ganz empfindlich einen Nerv, der noch immer dafür sorgt, dass Asylverfahren auch bei uns viel zu lange dauern, beide Seiten zermürben und letztlich Hass schüren.

Dass Sinha ihre Protagonistin ihre Wut nicht an einem der Beamten, sondern an einem unbeteiligten Migranten auslässt, der sie in der U-Bahn auf der Fahrt nach Hause anspricht, macht das Buch so ungeheuerlich, so sperrig und unbequem. Von der ersten Seite an ist die Tat unbegreiflich und bleibt es im Grunde bis zum Ende. Das kann nicht die Lösung sein, ist man versucht zu rufen, wenn die Verlierer des Systems auf Verlierer losgehen, wird sich nichts ändern.

In der Tat hat sich seit 2011 nicht viel geändert und vielleicht gibt das dem Roman diese ungeheuerliche Aktualität. Gelobt wird es aber auch für seine facettenreiche und bildhafte Sprache, die zunächst so gar nicht zum Thema passen will. Alles wirkt wie ein innerer Monolog der Erzählerin, wie sehr persönliche Empfindungen, die beschreiben, aber selten erklären. So bleibt ihre Motivation vage und der Leser gefordert.

Es ist wie gesagt kein einfaches Buch, keines, das Lösungen bietet, nicht einmal eines, das konkret anklagt. Aber es ist ein Buch, das aufschreit, das auf eine Schieflage aufmerksam macht, das wachrütteln will. Immerhin hat die Autorin dafür den Verlust ihrer Arbeitsstelle hingenommen und vor allem hat sie erreicht, dass über ihre Geschichte diskutiert wird. Manchmal ist das ja viel mehr wert als eine scheinbare Lösung anzubieten.

 

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