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02.06.2018

„Es waren immer Personen, die insbesondere die Kommunalpolitik, aber auch die große Politik für mich geprägt haben“


Interview mit dem Ehrenbürgermeister der Stadt Osterode Wolfgang Dernedde

geführt von Christian Dolle

150 Jahre SPD – Wie lange sind Sie dabei?

Ich bin auf die SPD aufmerksam geworden, nachdem ich bei Piller in Osterode 1952 eine Lehre als Maschinenschlosser begonnen hatte. Dort waren damals schon viele Kollegen beschäftigt, die ehrenamtlich in ihren Gemeinden in Räten engagiert waren und natürlich auch darüber sprachen. Da wurde ich neugierig und hörte genau hin.

Also durch die Beobachtung, dass andere politisch aktiv sind, möchte man wissen, was es damit auf sich hat?

Genau. Dazu kam, dass ich sehr schnell Kontakt über mein Engagement in den Gewerkschaften zur SPD bekam – seit 1953 – und dann hatte ich damals sehr schnell Kontakt zu Gewerkschaftlern vor Ort wie Franz Hagenburg, damaliges Ratsmitglied, und Kreisvorsitzender des DGB, Werner Glrombowski von der IG Metall, sowie Herbert Sührig. Dies waren die Ersten, zu denen ich Kontakt hatte und die mich aufgrund ihrer Lebensleistung, zum Teil ihren Erfahrungen die sie während KZ Aufenthalten machten, beeindruckt haben.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe dann über verschiedene jüngere Mitglieder der SPD in Osterode Kontakt zu jenen bekommen, mit denen ich dann ab 1955 sämtliche Wahlkämpfe aktiv mitgemacht habe. Das waren insbesondere Heinz Hartmann, Hans Rehfus und Heinz Rühmann.

Es ging also vor allem über persönliche Kontakte?

Genau. Dadurch gewann ich sehr schnell die Überzeugung, dass es durch die SPD für die Gewerkschaften sehr viel einfacher war, Politik im Sinne der Arbeitnehmerschaft mitzugestalten. 1958 bin ich daher dann in die SPD eingetreten.

Warum die SPD und nicht eine andere Partei?

Ganz eindeutig waren es die handelnden Personen in der Politik Ich hatte in der Zwischenzeit erkannt, dass es sehr große Unterschiede gab wie Arbeitnehmerinteressen in der Politik vertreten werden. Wenn ich als Arbeitnehmer etwas erreichen wollte, musste es diese Partei sein.

Ohne zu viel vorzugreifen: wäre die Entscheidung heute noch die gleiche?

Ja! Daran würde sich nichts ändern. Die Gründe dafür wurden mir später geliefert. Ich habe hier in Osterode diverse Landtags- bzw. Bundestagsabgeordnete wie Karl Armbrecht,
Heinz Radloff, Wolfgang Domröse oder Karl Heinz Hausmann oder die Bundestagsabgeordneten Kurt Schröder, Dr. Martin Schmidt, Edith Niehuis oder Dr. Wilhelm Priemeier erlebt. Sie alle haben mich durch ihr Engagement beeindruckt.

War es damals auch schon schwer, genügend Kandidaten für die Ratsarbeit zu finden?

Nein. Anfang 1961 sprach mich Kurt Schröder an, ob ich für den Rat kandidieren möchte. Es war eine komplett andere Situation als heute. Es waren deutlich mehr ältere Ratsmitglieder dabei als heute. Diese waren immer daran interessiert waren, jüngere Mitglieder nachzuziehen. Sie waren für uns jüngere Vorbilder. 1964 kamen diese Persönlichkeiten dann auch wieder in den Rat und ich erfuhr sehr spät, dass ich über meinen achten Listenplatz doch noch in den Rat kam.

Also haben Sie gar nicht damit gerechnet?

Nein, wir als SPD in Osterode waren froh, dass wir die sieben Sitze hatten und ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es für mich gleich beim ersten Mal klappt. Aber ich war dann der Jüngste und es hat mir sehr viel Spaß gemacht, auch weil ich als Sportler sofort in den Sportausschuss und dort zum Ausschussvorsitzenden gewählt wurde.

Man wurde also als Jüngerer durchaus ernst genommen?

Ernst genommen und gleich reingeschmissen in die Arbeit. Die Älteren sagten gleich: Sport ist 'was für jüngere Leute. Den Sportausschuss hatte bis dahin immer Dr. Dr. Krome beherrscht.Dies war für ihn ein herber Rückschlag. Er musste sich einem jungen Mann unterordnen, der von Ratsarbeit überhaupt aus seiner Sicht keine Ahnung hatte. Das hat ihm überhaupt nicht gefallen, aber später haben wir uns prächtig verstanden.

Mut und Selbstbewusstsein gehörte also dazu, vielleicht auch ein Stück weit Frechheit?

Mut und Selbstbewusstsein auf jeden Fall, Frechheit würde ich nicht sagen. Wir wollten im Rat einfach vieles anders machen und es war eine Aufbruchsstimmung in der Politik zu spüren.

Was waren dann die ersten großen Themen?

Das erste große Thema war die Schnellstraße. Also die Festlegung der Trasse für die Umgehungsstraße. In den Diskussionen ging es um die Frage, ob weit diese um Osterode herum oder ziemlich nahe an der Stadt liegen solle. Schließlich entschied sich der Rat mit großer Mehrheit für die Trasse, die dann auch gebaut wurde und ich glaube, wir können darüber heute noch froh sein, dass so entschieden wurde.

In solche Projekte muss man sich doch extrem einarbeiten, oder nicht?

Ja, innerhalb eines Vierteljahres, das war eine wahnsinnige Arbeit. Und natürlich ging es für viele nur um die eigenen Interessen, wobei ich damals noch so kindlich war zu glauben, dass das keine Rolle spiele. Doch ich merkte schnell, es ging vielen nur darum, wie gut sie ihre Grundstücke verkaufen können.

Würde man heute politisch noch genauso entscheiden wie damals?

Ich glaube, heute wäre es schwieriger, die Straße an dieser Stelle zu bauen. Zur damaligen Zeit waren Umwelt- und Lärmschutzbestimmungen bei weitem nicht so streng und die städtische Bebauung war in weiten Teilen nicht so dicht an die Straße herangewachsen.

Was waren die weiteren großen Themen?

Der zweite Punkt trat ab 1965 immer mehr in den Vordergrund – Wir hatten nur ein Freibad, das aber im Prinzip ein begrenztes Wasserloch war. Für Sportler war es völlig ungeeignet, doch der Rat hatte Angst vor den Investitionen. Dabei waren das damals ganz andere Hausnummern als heute. Es bildete sich ein Förderverein Hallenbad, der dann Druck machte und wir konnten den Rat schließlich zu der Entscheidung drängen, ein Hallenbad zu bauen. Unmittelbar nach den Wahlen 1968 gab es dann den ersten Spatenstich. Den führte zum Glück dann unser neu gewählter Bürgermeister, Hans Rehfus, aus. Nach den Wahlen 1968 gab es eine Koalition aus SPD und FDP.

Weitere große Thema waren in diesen Jahren die Bereitstellung von Industrie - und Gewerbeflächen, die Gemeindezusammenschlüsse und immer wieder die Ausgestaltung der Partnerschaft zu Armentières, die bereits seit 1963 bestand.

Also waren es im Grunde viele Entscheidungen, die sich bis heute auswirken.

Im Prinzip beschäftigen sie uns immer wieder, nur auf eine andere Art. Die Entscheidung, gemeinsam als eine Stadt diesen Weg zu gehen, war damals absolut richtig. 1971 und 1976 gab es die Gemeindezusammenschlüsse. Besonders froh bin ich noch heute über die Einrichtung der Ortsräte. Durch diese ist es bis heute möglich ist, die Menschen in den Ortschaften mitzunehmen. Nach meinem Dafürhalten dürften sie durchaus sogar etwas größere Gestaltungspielräume haben.

Wie steht es um die Zusammenarbeit im Rat?

Für den Rat war es besonders Wichtig besonders wichtig, bei allen unterschiedlichen Meinungen immer wieder sinnvolle Lösungen in strittigen Fragen zu finden. Etwa um 1975 gab es eine Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen z.B. in den Bereichen Bauhof, Abwasserbeseitigung oder Friedhöfen Die Fraktionen standen sich Unversöhnlich gegenüber. Letztlich entschied der Rat mit großer Mehrheit sich dahingehend, dass für alle über Gebühren abzurechnenden Bereiche eine jährliche Betriebskostenabrechnung vorzulegen sei. Damals war dies Neuland. Heut ist es allgemeines Recht.

Was hat sich denn in all den Jahren in der Ratsarbeit für die Mitglieder verändert?

Grundlegend anders für die einzelnen Mitglieder ist die Art, wie der Haushalt auf gestaltet wird und sich gedruckt darstellt. Im Gegensatz zu früher erscheint mir der Haushalt heut für Ratsmitglieder weniger nachvollziehbar. Heute ist alles in vielen Bereichen sehr viel schwerer zu durchschauen und nachzuvollziehen. Das macht die Ratsarbeit nicht einfacher. Wir hatten damals viel mehr Gestaltungsspielräume. Sicherlich auch, weil es auch weniger Bestimmungen zu beachten gab. Daher ist man heute beispielsweise beim Thema Schwimmbadbau viel abhängiger z. B. von Planern, technischen - und gesundheitsrechtlichen Bestimmungen als beim Bau des ersten Hallenbades.

Spielte Bundespolitik eine Rolle?

Immer, Die größte Zerreißprobe für die SPD war es damals als 1966 die große Koalition in Bonn beschlossen wurde. Aus ihr entwickelte sich aber auch die Zeit, in der die SPD um Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt den größten gestalterischen Einfluss auf die Deutsche wie Europäische Geschichte nahm. Willy Brandt besuchte im Herbst 1969 als Außenminister und Vizekanzler auch Osterode.

Also ähnlich wie jetzt?

Das war damals noch viel konträrer. Damals wurde nicht erst lange debattiert, es gab keine Mitgliederabstimmung oder Ähnliches. Die Entscheidungen hatten damals die Erfahrenen getroffen, und zwar diejenigen, die die Zwanziger Jahre miterlebt hatten und erlebt hatten, wie eine SPD sich selbst zerlegt, sich selbst schadet und der Demokratie noch dazu.

Müssen wir heute aufpassen, dass sich da Geschichte nicht wiederholt?

Da muss man höllisch aufpassen, dass es sich nicht wiederholt. Auch durch die Spaltung der Sozialdemokratie war es später leicht, das entstehen zu lassen, was 1933 zur Diktatur mit all ihren Folgen entstand.

Also ist die aktuelle große Koalition für die SPD kein Fehler?

Nein. Ich halte sie für den Weg der politischen Vernunft. Man darf Wähler nicht so lange zur Wahl auffordern, bis das Ergebnis herauskommt, das man sich wünscht. Abgeordnete müssen aus der Verantwortung heraus, die die Wähler ihnen übertragen, und auch aus der Zusammensetzung heraus dieser Verantwortung gerecht werden.

Der eigene Schaden muss also eventuell in Kauf genommen werden?

Der eigene Schaden muss im Interesse der Demokratie in Kauf genommen werden. Mir sagte schon damals noch in der Berufsschule ein Lehrer: Ihr könnt nie das Ideal wählen, es gibt nur das Kleinere Übel. Es gibt keine Partei, die eurem Wollen zu 100 Prozent entspricht. Dieses Wort hat mich immer begleitet.

Also ist die SPD für Sie das kleinere Übel?

(lacht) Nein, nein, die SPD ist immer meine Überzeugung gewesen. Das ich nicht immer mit allem einverstanden war, ist klar. Aber bei allen Abwägungsprozessen bis ich noch zu keinem anderen Ergebnis gekommen.

Wie lange braucht denn die Bundes-SPD, um aus dem momentanen Tief herauszukommen?

Ich bin davon überzeugt, dass sie aus dem Tief rauskommt, aber sie muss im sozialen Bereich engagierter ihre Dinge vorantreiben als bisher und dies auch deutlich machen. Natürlich immer vor dem Hintergrund der Gesamtverantwortung in der Regierung. Ich persönlich meine, man sollte sich mehr darauf konzentrieren, Hartz IV in die Gegenwart zu entwickeln und nicht immer nach Schuldigen zu suchen. Wichtig wäre es vor allem die Arbeitsverhältnisse so zu regeln, dass es unmöglich ist, gesetzliche Bestimmungen und tarifliche Vereinbarungen mit Tricks auszuhebeln.

Welche Weichen muss die Kommunalpolitik denn heute stellen, um Osterode in eine Zukunft zu führen, die positiv für die Stadt ist?

Ich glaube, die Weichen sind gestellt. Wir müssen es nur umsetzen können und wollen. Dazu gehört, dass wir die Einrichtungen, die wir haben, zeitgemäß gestalten. Also das Schwimmbad, die Stadthalle und Projekte wie Trafo in der Bücherei. Das große Hindernis ist nicht die Innenstadtgestaltung an sich, sondern die Kleinteiligkeit in der Innenstadt, die wir nicht aufheben können. Der Innenstadtbereich leidet u.a. darunter, dass die Geschäftsflächen häufig zu klein sind, um wirtschaftlich genutzt werden zu können. Aber auch die unterschiedlichen Ansprüche an die Nutzung der Innenstadt müssen bedacht werden. Eine „Flaniermeile“ allein ganz es nicht sein.
Wir müssen unsere Einflussmöglichkeiten immer wieder nutzen, um unsere Stadt als einen wichtigen Industrie- Gewerbe- und Handelsstandort, aber auch als Standort für Bildungseinrichtungen jeder Art zu sichern.

Sträflich vernachlässigt haben wir nun Ihre Zeit als Bürgermeister...

Ich bin erstmals 1991 als Bürgermeister gewählt worden und bin es bis zum Ausscheiden des Stadtdirektors Enno Mönnich 2004 im geblieben. Danach endete die Zweigleisigkeit und Klaus Becker trat als direkt gewählter Bürgermeister sei Amt an. Hinsichtlich der Einschätzung der Eingleisigkeit gab es durchaus unterschiedliche Meinungen zwischen dem Stadtdirektor und mir. Ich war für die Beibehaltung Zweigleisigkeit, er war anderer Meinung. Der Grund war, dass er wohl im Kollegenkreis zu oft erlebt hatte, welche Probleme es gab, wenn ehrenamtliche Bürgermeister meinten, sie müssten in die Verwaltung hineinregieren. Ich war der Bürgermeister, der Repräsentant der Stadt, habe allen stets zugehört, habe Argumente und Meinungen abgewogen und war immer um einen Ausgleich bemüht. Meist hatte ich Erfolg.

Auch mit Ihnen?

Nein, ich war wie auch schon mein Vorgänger Siegfried Wendlandt immer der Meinung, ein Bürgermeister hat in der Verwaltung nichts zu suchen. Darum konnten wir auch gut mit Enno Mönnich zusammenarbeiten. Ich würde daher die Doppelgleisigkeit heute noch für besser halten, weil die Belastung für einen hauptamtlichen Bürgermeister und die Ansprüche an ihn viel zu groß sind und die Wahlzeit zu kurz ist. Eh der sich in die Verwaltung eingearbeitet hat, sind nämlich schon zwei Jahre rum. Daher wäre es meiner Meinung nach besser, wie bei uns früher vertrauensvoll mit einem Stadtdirektor zusammenzuarbeiten.

Also letztlich - und da kommen wir auf den Beginn des Gespräches zurück - sind es dann doch immer wieder einzelne Personen, die die politische Arbeit auf dieser Ebene ausmachen?

Ja, in Osterode waren es immer Personen und auch das Vertrauen untereinander, die die Kommunalpolitik für mich geprägt haben. Es gab immer mal Meinungsverschiedenheiten, es gab immer mal unterschiedliche Ansätze, aber wenn man entschieden hatte, dann stand die Entscheidung und wurde auch vom Nächsten nicht wieder rückgängig gemacht. Das ist zum Glück bis heute so geblieben.

 

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