Kultur / Rezensionen

01.03.2018

Für die der Krieg nie ganz vorbei ging


Freya Klier gibt den „letzten Kindern Ostpreußens“ eine Stimme

von Christian Dolle

In den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges galt Ostpreußen noch als eine der sichersten und friedlichsten Regionen Deutschlands. Das änderte sich als die Rote Armee die Deutschen zurückdrängte und mehr und mehr Gebiete in blutigen Schlachten eroberte. Für die Menschen in Ostpreußen verwandelte sich ihre idyllische Heimat in eine Welt aus Angst, Qualen und Tod.

In dem Buch „Wir letzten Kinder Ostpreußens“ schildert die Autorin und Dokumentarfilmerin Freya Klier diesen Verlust der Heimat aus dem Blickwinkel derjenigen, die die Zusammenhänge wohl am wenigsten einordnen konnten. Sie lässt Kinder zu Wort kommen, deren Welt plötzlich auf dem Kopf steht, die plötzlich all ihr Hab und Gut zurücklassen müssen, die sich mit einem Mal mit allen Grausamkeiten des Krieges konfrontiert sehen. Dörfer und Städte werden zerstört, Frauen vergewaltigt, Familienangehörige verschleppt und nie wieder gesehen.

„Vor ihrem Einmarsch in Ostpreußen hatte Stalin den Soldaten versprochen, sie dürften drei Tage tun und lassen, was sie wollten. Das hat sich dann aber auf drei Jahre gedehnt... Und da hat sich keiner drum gekümmert, wenn Soldaten Verbrechen an der Zivilbevölkerung begingen.“, lässt Klier eines dieser Kinder berichten, „Nachts wurden die Frauen in einer Tiefgarage eingesperrt, wo sie auf dem bloßen Zementfußboden liegen mussten – meine Mutter in jener dünnen Kittelschürze, in der sie weggeholt worden war. Aber auch hier wurden sie wieder vergewaltigt.“

Es sind vor allem solche persönlichen Eindrücke, die die Autorin mit knapp gehaltenen erläuternden Zwischentexten zu einer Art Interview zusammenschneidet. Die persönlichen Schicksale stehen eindeutig im Mittelpunkt und zeichnen in ihrer Gesamtheit ein Bild jener Generation, die unter dem Krieg vielleicht am meisten zu leiden hatte. Es ist ein engagiertes, ein anklagendes Buch, eines wider das Vergessen.

„Bei vielen Kindern der ehemaligen Ostgebiete – die meisten heute weit im Rentenalter – kehrt die Vergangenheit immer wieder zurück, oft in grauenvollen Bildern“, schreibt Klier, „Sie leiden unter Angstzuständen, unter Albträumen und Schlaflosigkeit. Hoher Blutdruck und Herzrasen setzen ihnen zu. Und Filme über Krieg meiden sie, wenn es irgendwie geht, weil sie die Bilder nicht ertragen können. Diese Langzeitfolgen teilen sie mit den Kriegskindern der Länder, in die ab 1939 Deutschland einmarschierte – mit Polizeieinheiten, Wehrmacht und SS. Auch sie sind oft lebenslänglich traumatisiert und zeigen die gleichen Symptome wie ihre fernen Geschwister, die deutsch sprechen und von denen sie oft nur wissen, dass das ja die Kinder der 'Nazis' sind.“

Das Buch erzählt die Schicksale dieser letzten Kinder weit über das Kriegsende hinaus und zeigt damit auf, wie unwiederbringlich solch grausame Erfahrungen das gesamte Leben prägen. Manchmal scheint es beinahe zu ambitioniert, doch Freya Klier – in der DDR selbst wegen versuchter Republikflucht inhaftiert und später unfreiwillig ausgebürgert – geht es in diesem Buch nicht in erster Linie um historische, sondern um menschliche Aspekte. Daher lässt sich das, was sie erzählt, auch durchaus als Appell an all diejenigen verstehen, die mit der Zukunft von Kindern und nachfolgenden Generationen spielen.

 

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