26.10.2024
Wandern mit Gruselfaktor
Interview mit Marleen van de Camp zu ihren unheimlichen Wanderungen im Harz
von Christian Dolle
„Unheimliche Wanderungen - Harz“ heißt der etwas ungewöhnliche Reiseführer von Marleen van de Camp. Doch sie verbindet damit zwei Leidenschaften, einerseits Begeisterung für wunderschöne Landschaften und einzigartige Orte und andererseits ihre Faszination für schaurige Geschichten. Im Interview erläutert sie, warum für sie beides zusammenpasst.
Für die meisten Menschen ist Wandern eine Auszeit vom Alltag und ein Eintauchen in die Schönheit der Natur. In deinem Buch aber vergleichst du das Wandern mit dem Eintauchen in einen Horrorroman. Kannst du uns das mal genauer erklären?
Wenn man ein spannendes Buch liest, kann man es manchmal gar nicht mehr weglegen. Man ist von der Geschichte gefesselt. Der Alltag spielt in diesem Moment keine Rolle mehr. Genau das passiert auch beim Wandern zwischen mächtigen Felsen, beim Erkunden geheimnisvoller Höhlen oder wenn jeder Gedanke von einem donnernden Wasserfall übertönt wird. In meinen Wanderbüchern verbinde ich beides zu einer – vielleicht für so manchen – neuen Erfahrung.
Was macht für dich die Faszination des Schaurigen aus?
Gute Frage. Vielleicht ist es das Wissen um die eigene Sterblichkeit und der Versuch, sich dieser irgendwie anzunähern?
Zieht es dich eher an schöne oder doch an mysteriöse Orte?
Eher an mysteriöse Orte. Am kommenden Wochenende wandere ich zum Beispiel mit Freunden vom Deutschen Weintor ins Elsass. Diese Wanderung durch Weinberge soll im Herbst wunderschön sein und ich freue mich darauf, aber es fehlt doch das gewisse Etwas…
Wenn du jetzt von einem Ort wie beispielsweise der Steinkirche in Scharzfeld zur Einhornhöhle (beide kommen im Buch vor im Buch vor) wanderst, wie gehst du dann vor? Informierst du dich vorab über die Sagen und Legenden darüber bzw. über die reale Vergangenheit oder lässt du dich erst einmal treiben und recherchierst später dazu?
Ich recherchiere immer zuerst. Für die „Unheimlichen Wanderungen Harz“ habe ich ungefähr 30 Ziele mit unheimlichen Sagen und schaurigen realen Ereignissen gesammelt, via Internet und mit Sagenbüchern. Bei der darauffolgenden Routenplanung sind einige automatisch rausgeflogen, weil es keine schönen Strecken gab oder die Länge nicht gepasst hat. Den Rest habe ich nach dem Gruselfaktor und meinem persönlichen Geschmack entschieden.
Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Was geht in dir vor, wenn du in der blauen Grotte der Einhornhöhle stehst? Beobachtest du neutral oder lässt du deiner Fantasie freien Lauf?
Normalerweise laufe ich mit dem Handy herum und diktiere alles direkt in ein Dokument – Fakten und Fantasie, alles was für den Text irgendwie infrage kommt. (Peinlich, wenn Leute in der Nähe sind, aber da muss ich durch…)
In der Einhornhöhle war das nicht möglich. Man kann sie nämlich nur im Rahmen einer Führung besichtigen. Dabei wurden aber so viele spannende Geschichten erzählt, dass ich mich danach sofort vor der Höhle auf eine Bank gesetzt und alles aufgesprochen habe, woran ich mich erinnern konnte.
Was glaubst du, warum ausgerechnet der Harz bis heute auf viele Menschen etwas Mystisches ausstrahlt? Oder ist es gar nicht nur der Harz, sondern vielmehr unsere Sehnsucht nach Unerklärlichem?
Der Harz voll von bizarren Felsformationen und sagenumwobenen Ruinen. Von der Teufelsmauer, deren Existenz man sich nur mit Hilfe von Mystik erklären konnte, über den Brocken, dessen Gipfel sich an mehr als 300 Tagen pro Jahr in Nebel hüllt, bis hin zu Steinkirche und Einhornhöhle, die nicht nur sagenumwittert sind, sondern auch eine ganz reale unheimliche Geschichte haben.
Goethe hat durch sein Werk „Faust“ den Brocken für alle Zeiten mit dem Blocksberg synonym gemacht, auf dem Teufel und Hexen wilde Orgien feiern sollen. Dazu kommen uralte Rituale wie die Walpurgisnacht und das Questenfest, die im Harz in die Gegenwart getragen wurden. Leider hat auch der Borkenkäfer seinen Anteil an der mystischen Aura, denn ein Waldspaziergang erinnert derzeit mancherorts eher an den Gang über einen Friedhof. Es kommen also viele Faktoren zusammen, die dieses Bild des Geheimnisvollen ergeben und in uns die Sehnsucht wecken, es zu entschlüsseln.
Was sind deine frühesten Erinnerungen an den Harz?
Ich war tatsächlich für die „Unheimlichen Wanderungen“ zum ersten Mal im Harz. Angefangen habe ich im Hoch- und Oberharz und ich erinnere mich noch, dass ich von den Felsen, Höhlen und Burgen völlig begeistert war. Und erleichtert, dass die ausgewählten Orte mehr als gehalten haben, was sie versprachen.
Hast du eine Lieblingswanderroute hier im Harz?
Es fällt mir sehr schwer, mich zu entscheiden, darum wähle ich eine Strecke, die vielleicht noch so etwas wie ein Geheimtipp ist: die Kyffhäuser Kelle im Naturpark Südharz. Man steigt Treppen hinunter in ein giftgrünes Tal und plötzlich wird man von einem bösen Auge angestarrt. Es ist ein Erdfall, der wirklich die Form eines Auges hat. Darin hat sich ein leuchtend blauer Höhlensee gebildet. Natürlich ranken sich Sagen um diesen See. Es soll eine Nixe darin leben, die Menschen in die Tiefe lockt, und ein Priester aus Ellrich soll alljährlich mit der gesamten Gemeinde dorthin gezogen sein, um den mordgierigen See zu besänftigen. Er soll sein Kruzifix ins Wasser gehalten und gerufen haben: „Kommt und guckt in die Kelle, so kommt ihr nicht in die Hölle.“
Danke für das Interview.