Kultur / Rezensionen
28.10.2023
Kannst du deinen Erinnerungen trauen?
Memoria von Zoë Beck ist ein spannender Thriller in einer nahen Zukunft
von Christian Dolle
Einige Jahre in der Zukunft. Wer kein Vermögen hat, muss in verlassenen Wohnblocks leben, durch Arbeit allein kommt niemand mehr über die Runden. Außerdem sind die Sommer unerträglich heiß, immer wieder bedrohen unkontrollierbare Waldbrände das öffentliche Leben.
Als Harriets Zug wegen eines Brandes halten muss, steigen sie und einige andere aus und entdecken zufällig eine Hütte im Wald, in der sich eine Frau eingeschlossen hat, die die automatische Verriegelung nicht öffnen kann. Harriet und zwei andere retten die Frau vor den Flammen, fahren sie ins Krankenhaus.
Erst danach fällt Harriet auf, dass sie gar keinen Führerschein hat, noch nie ein Auto steuerte. Woher konnte sie es plötzlich? Stimmt etwas mit ihren Erinnerungen nicht? Dieser Eindruck verfestigt sich immer mehr, denn nach und nach stößt sie immer wieder auf Details, die sich mit dem, was sie über ihre Vergangenheit zu wissen glaubt, nicht decken.
Suche nach der eigenen Vergangenheit
Zoë Becks neuer Thriller „Memoria“ spielt in einer sehr nahen Zukunft. Ein ähnliches Setting wählte die Autorin auch schon bei ihren letzten Büchern „Paradise City“ und „Die Lieferantin“. Sie erzählt nah an der Realität, denkt jedoch einige Entwicklungen weiter, so dass sie daran aufzeigen kann, was werden könnte, wenn wir nicht aufpassen.
Ja, Zoë Beck ist eine politische Autorin, sie bezieht klar Stellung, was sich in diesem Buch eben vor allem in ihrer Schilderung der Gesellschaft zeigt, in der Arm und Reich so weit auseinandergedriftet sind, dass sie beinahe in verschiedenen Welten leben. Und natürlich zeigt es sich in der Erderwärmung, also in einem offenbar leicht fortgeschrittenen Klimawandel, der aber verheerende Auswirkungen hat.
Allerdings ist Zoë Beck auch Thrillerautorin. Das zeigt sich zum einen darin, dass diese gesellschaftlichen und ökologischen Hintergründe nie plakativ als warnendes Szenario in den Vordergrund gerückt werden, sondern jene Welt sind, in der sie eine spannende Geschichte erzählt. In deren Mittelpunkt steht ganz klar ihre Protagonistin Harriet und deren Suche nach der eigenen Vergangenheit, also nach zuverlässigen Beweisen, ob das, was sie zu wissen glaubt, auch der Wirklichkeit entspricht.
Eine erschreckende Wahrheit
Es fängt klein an, sozusagen mit leichten Rissen an der Oberfläche, die aber tiefer werden, je mehr sie ihnen auf den Grund geht. Bald liegt die Gegenwart in Scherben und sie muss sich mit jener Zeit auseinandersetzen, aus der sie offenbar das meiste verdrängt hat. Am Ende steuert alles auf ein überraschendes Finale zu, die erschreckende Wahrheit, auf die die Autorin konsequent und mitreißend hinarbeitet.
Zoë Beck schafft es also immer wieder, brisante Themen in einer spannenden Thrillerhandlung zu verpacken, was sie zu einer wichtigen Stimme in der literarischen Welt macht. Auszeichnungen mit dem Glauser-Preis, dem Deutschen Krimipreis und vielen anderen bestätigen das ja auch.
Ihre schriftstellerische Besonderheit ist eben diese Mischung aus Gegenwartsbeobachtung und Science Fiction, also immer wieder dieser Blick nach vorne und was uns in einigen Jahren erwarten könnte. Das steht aber nicht für sich, selbstverständlich hat auch die Handlung um Harriet mit neuen Entwicklungen zu tun, allerdings ist es schwer, konkreter darauf einzugehen, ohne zu viel zu spoilern.
Daher sei an dieser Stelle nur gesagt, dass „Memoria“ ein spannender Trip in die Jugend einer sehr ausgefeilten, lebensnah geschilderten und vielleicht sogar in Teilen Autobiografischen Protagonistin ist, der mit einem ziemlichen emotionalen Knall endete und wirklich in mehrfacher Hinsicht bewegt.
Die Rezension gibt es auch als Video: