Kultur / Rezensionen

06.05.2023

Wenn die Realität spannender ist als die Fiktion


Benjamin von Stuckrad-Barre rechnet in „Noch wach?“ mit Julian Reichelt ab

von Christian Dolle

Überall wird gerade über den Enthüllungsroman von Benjamin von Stuckrad-Barre berichtet. Parallel dazu sind private Nachrichten von Springer-Chef Mathias Döpfner geleakt worden, die dessen deutliche Einflussnahme auf die Stoßrichtung der Blätter des Verlages aufzeigen. Stuckrad-Barres „Noch wach?“ kommt also genau zur richtigen Zeit. Oder kamen vielleicht die Leaks passend zur Buchveröffentlichung?

So genau blickt da wohl niemand durch, auf jeden Fall steht sowohl die Literaturszene als auch die Presse Kopf, weil jetzt offenbar wird, dass... ja was eigentlich? Dass Springer keinen ordentlichen Journalismus betreibt? Dass Döpfner seine Macht ausspielt und eindeutige politische Vorlieben hat? Dass der ehemalige Chefredakteur Julian Reichelt ein Hetzer ist, der sich Frauen gegenüber völlig daneben benommen hat? Ehrlich gesagt sind das alles keine erschütternden Neuigkeiten. 

Bietet denn das Buch etwas Neues? Kann Benjamin von Stuckrad-Barre Licht ins Dunkel bringen und aus seiner Position als enger Vertrauter Döpfners heraus dem Konzern wirklichen Schaden zufügen? So jedenfalls klingt es oft in den Medien an. 

Stuckrad-Barre schreibt, was er am besten kann

Nun gut, erst einmal beteuert der Autor im Disclaimer seines Buches, es sei ein Roman, der zwar von Fakten inspiriert, jedoch im Ganzen eine fiktionale Geschichte sei. Die beginnt mit einer jungen Frau, die bei einem Fernsehsender (keiner Boulevardzeitung) anfängt und den unangenehmen Chefredakteur besser kennenlernt, als ihr lieb ist. Außerdem gibt es den Erzähler, der vor allem das Luxusleben, das er durch den Verlag bzw. durch die Freundschaft zum großen Boss, genießt und in vollen Zügen auskostet. 

Damit schreibt Stuckrad-Barre erst einmal über das, was er am besten kann. Ausschweifende Partys, popkulturelle Referenzen in jedem Satz, ein Hin- und Herrudern zwischen der Beurteilung von Menschen anhand der Marken, die sie tragen, und der Musik, die sie hören, und dem Schwadronieren über die Oberflächlichkeit eben dieser Attitüden. So schreibt er seit „Soloalbum“, das machte ihn zum Popliteraten, das ist an vielen Stellen durchaus pointiert und vor allem sprachlich ausgefeilt. 

Was will der Autor damit sagen?

Allerdings war Benjamin von Stuckrad-Barre in seinen kurzen bissigen Texten schon immer deutlich besser als über die Strecke eines Romans. Da gab es beispielsweise mal eine Geschichte über den Frontmann einer deutschsprachigen Band, dessen Ehefrau er in einem Café über ihn hat lästern hören. Er schrieb es auf, ziemlich ungefiltert, was ungemein unterhaltsam, aber auch ebenso moralisch und journalistisch abstoßend war. Schon in seinem gefeierten „Soloalbum“ blieb allerdings am Ende die Frage, was der Autor eigentlich sagen wollte. 

So ist es auch in „Noch wach?“. Kämpft man sich durch sämtliche popliterarischen Anspielungen durch, die leider manchmal klingen wie eine Liste der meistgesuchten Begriffe bei Google, bleibt letztlich nicht so viel übrig. Sicher, der sexistische Chefredakteur wird bloßgestellt, der Fernsehsender des Populismus überführt und der Erzähler wird mehr und mehr zum #MeToo-Versteher, der sich dadurch von seinem Freund distanziert. All das bietet aber wenig Neues, weder in der Realität, noch literarisch. (Übrigens kommen mir für ein Buch, in dem es um Machtmissbrauch von Männern gegenüber ihren weiblichen Angestellten geht, die Frauenfiguren auch viel zu kurz.)

Oft klingt es vielmehr wie eine notwendige Distanzierung Stuckrad-Barres von der Selbstgefälligkeit dieser alten weißen Männer. Immerhin hat er ja selbst lange genug für Springer gearbeitet und davon sicher auch profitiert. Da passt der letzte Satz des Buches vielleicht viel zu gut: „Nein, uns war nichts aufgefallen.“

Die Medienwelt kritisch betrachten

Als Roman jedenfalls ist es vor allem eine Nabelschau des Ich-Erzählers, übertragen auf die Wirklichkeit frage ich mich, wer all das über die Bild, Julian Reichelt und deren Arbeitsweisen etc. denn noch nicht wusste. Selbst ich habe schon berufliche Erfahrungen mit Bildredakteuren gemacht und weiß für mich, dass ich niemals und unter keinen Umständen mit diesem Konzern zusammenarbeiten würde. Und im Grunde sollte das jeder schon seit Günter Wallraffs „Der Aufmacher“ oder Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wissen. Beide sind meiner Meinung nach deutlich lesenswerter. 

Vermutlich ist „Noch wach?“ aber dennoch ein wichtiges Buch. Weil es offenbar immer noch Menschen gibt, die sich aus der Bild informieren, die immer noch nicht wissen, dass Axel Springer Journalismus zur politischen Einflussnahme missbraucht, die von #MeToo noch nie etwas gehört haben und Frauen in erster Linie als Lustobjekte ansehen. Ja, selbst die jüngsten Videos von Simplicissimus und Rezo zu diesem Thema gehen mehr in die Tiefe als dieser Roman und dennoch regt er eine Diskussion an, die für einige offenbar längst überfällig ist, und sorgt für einen Medienrummel, der uns helfen kann, aufmerksamer und kritischer in der Medienwelt unterwegs zu sein. Das nämlich war nie so wichtig wie heute.

 

Diese Rezension gibt es auch zum Hören:


Auch auf der Buchmesse war am Stand von Kiepenheuer & Witsch kein Buch präsenter

 

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