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15.09.2022

"Es wird mit zweierlei Maß gemessen"


Ilyas Cangöz, Vorsitzender des Alevitischen Kultur- und Solidaritätsvereins Herzberg mit seiner Lebensgefährtin Sabine Lange

Die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und Ilyas Cangöz, Vorsitzender des
Alevitischen Kultur- und Solidaritätsvereins Herzberg, kritisieren die Haltung Deutschlands
gegenüber der Türkei als einseitige Wahrnehmung in Sachen Menschenrechtsverletzungen

...von Ralf Gießler

Auf der Homepage der deutschen Botschaft in Ankara, Türkei, ist unter anderem zu lesen, dass sich die deutsche Außenpolitik als werteorientiert und interessengeleitet versteht.

In Syrien zum Beispiel suche die internationale Gemeinschaft nach Beginn des Aufstands gegen das dortige Assad-Regime weiter nach Wegen aus der Gewalt. Deutschland setze sich für eine politische Lösung in dem Konflikt ein. Gemeinsam mit den EU-Partnern habe Deutschland Sanktionen gegen die syrische Führung beschlossen und unterstütze zudem die notleidende Zivilbevölkerung humanitär. Dem Nahostkonflikt widme die Bundesregierung weiterhin besondere Aufmerksamkeit. Auch pflege die Bundesregierung einen besonders engen Dialog mit der Türkei.

Stets eine klare Haltung in Sachen Menschenrechte zeigen sowie werteorientiert handeln - wer würde das nicht unterstützen? Dies wird ausdrücklich von Menschenrechtsorganisationen anerkannt und begrüßt: "Die offenen Worte seitens der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zur Freilassung des Oppositionellen Osman Kavala in der Türkei waren richtig. Frau Baerbock hat das lange Schweigen zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die Regierung Erdogan beendet", loben die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM). Wenn es aber um die Verfolgung und Unterdrückung von Kurden ginge, schweige die deutsche Regierung weiterhin auffällig laut, so die Kritik der Menschenrechtsorganisationen.

Etliche Fragen seien unangenehm, aber sie müssten gestellt werden: "Warum ignoriert die deutsche Bundesregierung seit Jahren Angriffe des türkischen Militärs auf Minderheiten und Autonomieverwaltungen im Grenzgebiet Syriens und des Iraks? Warum ist die katastrophale Menschenrechtslage für Kurden im Iran kein Thema? Türkische Militärschläge sowie der Terror der Milizen, die aus Ankara finanziert werden, destabilisieren die gesamte Region. Zahlreiche Menschen werden zur Flucht gezwungen. Den Verbleibenden will Präsident Erdogan einen radikalen sunnitischen Islam aufzwingen. Mit Moscheebauten und Koranschulen zwangsislamisiert und -osmanisiert er Gebiete, um die ursprüngliche Kultur, Ordnung und religiösen Bräuche zu verdrängen. Opfer sind neben Kurden auch Jesiden und assyrische Christen“, erklärte Martin Lessenthin, Vorstandssprecher der IGFM, in einem Statement.

Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV in Göttingen, prangerte zudem das Anliegen der türkischen Führung unter Erdogan an, in Deutschland lebende Kurden strafrechtlich verfolgen zu lassen oder gar an die Türkei auszuliefern: "Wer öffentlich in kurdischen Farben demonstriert, Freiheit für politische Gefangene fordert oder Symbole von kurdischen Organisationen mit sich führt, darf nicht kriminalisiert werden! Wer zu Menschenrechtsverletzungen von Erdogan schweigt und ständig Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei zeigt, nimmt Kriegsverbrechen von heute und Genozide von morgen in Kauf. Wenn Deutschland und die NATO glaubwürdig bleiben wollen, dürfen sie Erdogans Angriffskriege gegen Kurden und andere Minderheiten nicht rechtfertigen, verharmlosen oder unterstützen."

Nach Auffassung der Menschenrechtler stelle die sich rasant verschlechternde Menschenrechtslage im Einflussgebiet der Erdogan-Türkei eine Gefahr für Europa und die NATO dar. So seien die türkischen Einflussnahmen gegen Armenier in Berg-Karabach und auf dem Territorium von Deutschland und anderen EU-Staaten nicht zu tolerieren. Alle Menschenrechtsverletzungen, die von der Türkei ausgehen, müssten öffentlich gemacht und beendet werden. Dr. Sido unterstrich in persönlichen Worten, dass seine ehemalige Heimatstadt Afrin im Nordwesten Syriens bis 2018 friedlich war: "Als die Türkei mit Unterstützung von Nato und Russland diese kleine Region besetzte, hat sich alles verändert: Massenflucht, tägliche Morde, Vernichtung der Natur, der Kultur, der kurdischen Sprache, der religiösen Minderheiten. Dennoch haben Politiker wie Annalena Baerbock immer noch Verständnis für die "Sicherheitsinteressen" der Türkei, einfach unverschämt."

Dass die Lage nach wie vor dramatisch ist, wird in einer am 06. September veröffentlichen Nachricht der GfbV deutlich: "Die türkischen Angriffe auf Syrien haben sich intensiviert. Im August hat die türkische Armee ihre Angriffe auf ethnische und religiöse Minderheiten in Syrien erneut ausgeweitet. Es wurden 1.917 türkische Granatwerfer- und Raketenangriffe auf verschiedene Gebiete im Norden und Nordosten Syriens gezählt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert daher die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock auf, diese völkerrechtswidrige Aggression des NATO-Partners zu verurteilen und ihr Ende zu fordern."

Ilyas Cangöz, Vorsitzender des Alevitischen Kultur- und Solidaritätsvereins Herzberg, unterstützt die Haltung der Gesellschaft für bedrohte Völker. Der gebürtige Kurde gehört zur religiösen alevitischen Minderheit, die in der Türkei keinen leichten Stand hat. Er kam 1972 nach Deutschland, um hier zu arbeiten und zu leben, nicht aus religiösen Gründen. "Aber seit damals hat sich die Situation in der Türkei sehr verändert, besonders unter Präsident Erdogan. Bislang hatte ich zwar keine Probleme, wenn ich in meine alte Heimat reiste. Ich denke, das liegt auch daran, dass ich einen deutschen Pass besitze. Allerdings gab es vor Jahren ebenfalls in meiner Familie in der Türkei einen Todesfall zu beklagen, als mein Neffe erschossen wurde."

Nach seiner Meinung werde in der deutschen Politik mit zweierlei Maß gemessen und zu wenig die prekäre Menschenrechtslage in der Türkei angesprochen: "Was die Türkei betrifft, ist man hierzulande zurückhaltender als bei anderen Ländern. Denn schließlich ist die Türkei Nato-Mitglied und enger Partner und Verbündeter. Vielleicht hat man Angst, die türkische Führung könnte auf Kritik verärgert reagieren und aufgrund dessen die Grenzen für Flüchtlinge, die nach Europa möchten, wieder öffnen."
Auch den derzeitigen Umgang mit Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, sieht er skeptisch: "Wenn ich auf die Situation 2015 zurückblicke und sie mit der heutigen vergleiche, habe ich den Eindruck, es werden auch hier andere Maßstäbe angelegt. Es darf aber keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse geben. Jeder muss gleich behandelt werden. Außerdem gibt es leider auch andere schreckliche Krisen, wie beispielsweise in Syrien, Libanon oder im Jemen, über die in den Medien bei weitem nicht so umfassend berichtet wird, wie über den Ukrainekrieg. Ich würde es begrüßen, wenn auch diese genannten Krisen ein entsprechendes Echo in der Politik und den Medien bekämen."
Für die Zukunft wünschten sich er und seine Lebensgefährtin Sabine Lange jedenfalls in erster Linie Frieden und Gerechtigkeit, denn "die Welt sei groß genug für alle."


Dr. Kamal Sido, Nahostexperte bei der Gesellschaft für bedrohte Völker Göttingen (GfbV)

 

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