Kultur / Federkiel

18.06.2022

Der 17. Juni 1953... und der Schweigemarsch


In den früher 50er Jahren konnte Oma Emma Hellfritzsch aus der DDR (Pößneck/Thüringen) noch auf Besuch kommen. Das Foto zeigt sie inmitten ihrer Großkinder Achim, Wilfried und Helga

...Joachim Schwerthelm

Helga Häusler erinnerte sich dieser Tage wieder an die Zeit des 17. Juni 1953 und wie versucht wurde, sich in der Bundesrepublik mit der Niederwerfung des Aufstands in Ostberlin und den sich anschließenden Folgen, auseinanderzusetzen:

 17. Juni 1953  -  Erinnerungen von Helga Häusler

Damals war ich  neun Jahre alt. Eine bedrückte und emotionale Spannung herrschte im elterlichen Haus, denn es wurde über den Arbeiteraufstand in Ostberlin gesprochen. So richtig verstand ich noch nicht, warum die Menschen auf den Straßen protestierten. Es ängstigte mich aber, weil nicht nur von Ostberlin die Rede war, sondern von der gesamten „Ostzone". Und da wohnte schließlich auch meine liebe Oma. Wohl hatte ich bereits im Vorfeld mitbekommen, dass Oma nicht alles kaufen konnte. Viele Lebensmittel standen nur unzureichend zur Verfügung oder sie waren zu teuer oder des öfteren von schlechter Qualität.

Auch musste man kein Hellseher sein, um Omas Briefe allein an den grauen, rauen Briefumschlag zu erkennen. In ihren Briefen in schöner deutscher Schrift schimpfte sie z. B. darauf, dass sie wieder einmal in einer langen Schlange vor einem Geschäft anstehen musste und am Ende leer ausgegangen sei oder nur noch Grütze übrig geblieben war. Manchmal lachten wir darüber, auf welche Art und Weise sie ihrem Ärger Luft machte. Ihre Ausdrucksweise war mitunter recht originell. So bezeichnete sie den Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht wegen seines eigenartigen Bartes stets mit „Barts Walter". Immer häufiger schrieb sie: „Es wird immer schlimmer.., mit allem!"

Mit der Zeit erfuhr ich von Mama, in der Schule und aus dem Radio, worum es letztendlich ging und das lag nicht an Omas Lebensmittelkritik. Am meisten hatte mich erschreckt, dass russische Panzer zum Einsatz kamen und dass Menschen erschossen wurden. „Der Krieg war doch vorbei?", dachte ich. Aber ich spürte, dass die Menschen wieder Angst vor einen neuen Krieg hatten.     

Wie oft war ich mit einem unguten Gefühl an den beiden Panzerwracks in der Allee und an der Sösebrücke vorbeigegangen. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, dass darin Soldaten, also Menschen sterben mussten!  Und nun schossen doch wieder Panzer in Berlin.    

Nach und nach tröpfelten die schlimmen Ereignisse vom 17. Juni 1953 und deren Folgen per Radio und illustrierten Zeitungsberichten zu uns in den Westen. Mit Entsetzen hörte man von Erschießungen, Hinrichtungen und Zuchthausstrafen. Mehr als 50 Tote soll es gegeben haben. Sicherung der Grenzen mit Stacheldraht und Grenzpolizei waren die Folge. Am Ende baute man die MAUER in Berlin und das, obwohl Walter Ulbricht Wochen vorher vor internationaler Presse verkündete: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen!" 

Der 17. Juni wurde zum nationalen Feiertag erklärt. In der Schule sorgten die Lehrer dafür, dass er nicht in Vergessenheit geriet.

Der Schweigemarsch
In der Folgezeit sollten wir Schüler ein Zeichen setzen. Zusammen mit unserem Pastor Martini veranstaltete Klassenlehrer Lehrer Specht und uns an der Grenze bei Mackenrode einen Schweigemarsch. Wir sollten „denen da drüben" unsere Art des Protestes zeigen. 

Zu meinem Erstaunen war die Grenze damals kaum zu erkennen. Ich erinnere mich nur an einen Drahtzaun und deren Pfosten standen häufig windschief in der Landschaft. Wohl erst später gab es Hinweis- bzw. Warnschilder mit „Halt! Hier Zonengrenze!". Vor unserer „Grenzkundgebung" wurden wir noch einmal belehrt, dass wir vollkommenes Stillschweigen zu wahren hatten, langsam hintereinander im Gänsemarsch gehen und nicht stehenbleiben sollten. 

Uns war mulmig zumute, weil wir wussten, dass die Grenzer schießbereite Gewehre parat hatten. Ich erinnere mich genau, dass wir direkt am Zaun entlang durch hohes nasses Gras laufen mussten, und Pastor Martini darum wie ein Storch im Salat die Beine hob. Es sah sehr komisch aus. Jemand kicherte hinter mir. Sofort war ein „Psschst" zu vernehmen. Eine bedrückende Atmosphäre lag in der Luft. Furchtsam richtete ich meinen Blick ausschließlich auf die nass glänzenden Schuhe meines Vordermanns. Ich wagte kaum aufzublicken. In meiner Vorstellung hätte es ja sein können, dass irgendwo versteckt ein Gewehr auf mich gerichtet war. Irgendwie war es für mich ein gewagtes Unterfangen. 

Aber unser Schweigemarsch verlief ohne Zwischenfälle. Ich glaube, dass jeder, samt Pastor und Lehrer, heilfroh war, unbeschadet am Ende des Grenzabschnitts angekommen zu sein. Erleichtertes Aufatmen! Was für ein Erlebnis! Bewirkt hat es bekanntermaßen nichts. Nach uns sollten noch viele Klassengenerationen folgen, bei denen der Ausflug und ein Marsch entlang der Grenze zum Pflichtprogramm gehörte.  

Wer hätte damals von uns gedacht, dass es noch bis 1989 dauerte, bis sich die Freiheit mit großen friedlichen landesweiten Demos erkämpft wurde. Und das nur, weil sich die DDR Bevölkerung  nicht mehr von den staatlichen Repressionen einschüchtern ließ. 

Trotz der Wiedervereinigung im Jahr 1990 ist mir der 17. Juni 1953 und das damit verbundene Leid im Land meiner Oma und besonders der Schweigemarsch entlang der nahen Grenze deutlich im Bewusstsein geblieben. Gerade wegen der aktuellen kriegerischen Ereignisse in der Ukraine, ist es nicht hoch genug zu schätzen, dass wir seit vielen Jahrzehnten in Frieden leben können. 

 

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