Regionales / Bad Sachsa / Walkenried

11.05.2022

"Nie wieder Krieg!" - "Wieder Krieg!"


Weiße Friedenstauben warteten auf ihren Flug

Mit der gleichnamigen Veranstaltung gelang den Organisatoren in Bad Sachsa am 8. Mai ein
emotionales Gedenken sowie ein Bogenschlag von der Vergangenheit in die Gegenwart.

...von Ralf Gießler

Bewegende Worte, emotionale Gesten und Momente, aber auch fröhliche Lieder und Tanz: Bei der Veranstaltung "Nie wieder Krieg!" - "Wieder Krieg!" wurde am 8. Mai in Bad Sachsa an das Ende des 2. Weltkrieges, die Folgen des gescheiterten Hitler-Attentats am 20. Juli 1944 sowie des derzeitigen Angriffskrieges auf die Ukraine durch Russland in würdiger Form gedacht.

Menschen aus Deutschland, Russland und der Ukraine erinnerten 77 Jahre nach Weltkriegsende an die Folgen von Krieg, Flucht, Vertreibung und Angst. Sie setzten im Kurhaus der Uffestadt ein starkes Zeichen, verknüpft mit der Hoffnung: Musik statt Morden, die Macht der Worte statt der Macht der Waffen!

Den Organisatoren Ralph Boehm vom Förderverein Heimatmuseum Bad Sachsa sowie Filmregisseur, Produzent und Grimme-Preisträger Michael Heuer gelang ein Gedenken an schreckliche Ereignisse in der Vergangenheit und Gegenwart, verbunden aber mit hoffnungsvollen Symbolen für die Zukunft. Seit jeher sehnt sich die Menschheit nach Frieden, und trotzdem sucht sie den Krieg. Als die Welt am 8. Mai 1945 vom Nationalsozialismus befreit wurde, war "Nie wieder Krieg!" der generationsübergreifende Wunsch. Mit Beginn des russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 musste diese Hoffnung jedoch begraben werden - in Europa herrscht erneut Krieg!

In seiner Begrüßungsansprache erklärte Daniel Quade als Bürgermeister von Bad Sachsa, dass die Befreiung vom Nationalsozialismus vor 77 Jahren ein großes, wichtiges Zeichen für nachfolgende Generationen gewesen sei: "Leben in Frieden ist keine Selbstverständlichkeit. 1500 Kilometer von uns ist Krieg leider zu einer bitteren Realität geworden. Ich verurteile den russischen Präsidenten Putin, warne aber vor einer Vorverurteilung einer ganzen Nation." Quade forderte ein Ende des Krieges in der Ukraine und zeigte sich beeindruckt vom Engagement der Bad Sachsaer Bevölkerung in Zeiten der Krise.

Ralph Boehm erklärte in seinen Grußworten die Notwendigkeit, sich mit der Geschichte zu beschäftigen: "Wir müssen uns auch heute und in Zukunft mit dem Nationalsozialismus leider auseinandersetzen - und mit Krieg." Bereits 1936 habe der spätere Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, Carl Friedrich Goerdeler, bemerkt, dass die Wiederherstellung des einfachen menschlichen Anstands wichtiger denn je sei. Goerdeler gehörte zu den führenden zivilen Köpfen der Widerstandsbewegung gegen Adolf Hitler und sollte nach Gelingen des Attentats vom 20. Juli 1944 Reichskanzler werden. Weil dieses jedoch misslang, wurden die Nachkommen der Attentäter in Folge einer Sippenhaft nach Bad Sachsa in das einst im Borntal gelegene NS-Kinderheim verschleppt.

Dazu gehörten auch Carl und Rainer Goerdeler, die Enkel von Carl Friedrich Goerdeler, und Friedrich-Wilhelm von Hase, Sohn des Generalleutnants Paul von Hase, der wie Goerdeler wegen seiner Beteiligung am Hitler-Attentat hingerichtet wurde. Alle drei Nachfahren begrüßte Ralph Boehm, darüber hinaus ukrainische Flüchtlingsfamilien, die jetzt in Bad Sachsa Zuflucht fanden. Weil am 8. Mai in diesem Jahr auch gleichzeitig Muttertag sei, sei dieser Tag für Boehm zudem ein Symbol der Hoffnung: "Lassen Sie uns hoffen auf einen baldigen Waffenstillstand, auf ein Ende des Mordens und das Zurückweichen des Aggressors Russland."

Als Symbol für den Frieden entließen im Vitalpark Schülerinnen und Schüler 54 weiße Friedenstauben unter den musikalischen Klängen des Bläserchors St. Nikolai in den strahlend blauen Himmel. Im ersten Programmteil erfreuten Schülerinnen und Schüler der Grundschule Bad Sachsa mit einer Tanzeinlage sowie dem Lied "Kleine weiße Friedenstaube" von Erika Schirmer, die ebenfalls im Publikum des Kursaals sass. Schirmer war tief bewegt, als sie ihr Lied hörte, welches sie vor 74 Jahren komponierte. Sie selbst sei aus Schlesien geflohen und hatte in ihrer neuen Heimat ein Plakat gesehen, welches eine kleine Taube zeigte. So sei die Idee zum Lied entstanden.

Es folgten gelungene musikalische Darbietungen von Grete Boehm, Stella Perevalova und Irina Kiyashko. Auch eine ukrainische Familie ließ es sich nicht nehmen, die Gäste zu unterhalten. Larisa Gertz, gebürtige Ukrainerin und seit Jahren im Südharz zuhause, berichtete unter anderem vom Bestreben, hier ein ukrainisches Zentrum gründen zu wollen. Mit ihren gemeinsamen Auftritten setzten die gebürtige Russin Perevalova am Klavier sowie die junge Ukrainerin Irina Kiyashko an der Geige und mit ihrem gefühlvollem Gesang ein starkes Symbol für ein friedliches Miteinander.

Im zweiten Teil sorgten Lesungen für Gänsehautmomente im Publikum. Nathalie Thiede vom Deutschen Theater Göttingen und Annika Schuchardt lasen aus den Lebenserinnerungen von Irma Goerdeler, der Mutter der anwesenden Carl und Rainer Goerdeler, sowie aus den Tagebuchaufzeichnungen der 14-jährigen Christa von Hofacker. Besonders ergreifend waren dabei die Erläuterungen und Ergänzungen der beiden Goerdeler-Brüder. Lebenserinnerungen zu lesen ist das eine. Völlig anders jedoch die Wirkung, wenn die ehemals verschleppten Kinder sich selbst dazu äußern. Die geschilderte Verzweifelung der Mutter war nahezu körperlich greifbar: "Unsere Mutter hoffte. Es kann doch nicht sein, dass Kinder leiden müssen. Leider war und ist es so, auch heute noch", sagte Carl Goerdeler sichtlich ergriffen. Es herrschte bei den Ausführungen eine sehr stille Stimmung im Kursaal.

Nicht minder still war es, als Helga Schubert aus ihrem Buch "Judasfrauen" das Kapitel "Gesucht: Goerdeler" vorlas. In diesem Abschnitt berichtete die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin über die Umstände der Goerdeler-Verhaftung sowie die Folgen für den Widerstandskämpfer und später im Nachkriegsdeutschland auch für die Denunziantin. Zum Schluss folgte ein Erinnerungsbesuch im Borntal, wo die Nachfahren der getöteten Widerstandskämpfer einige Zeit ihres noch jungen Lebens verbringen mussten.

Den Organisatoren Ralph Boehm und Michael Heuer ist mit ihrer einfühlsamen Veranstaltung etwas Besonderes gelungen. Die Darstellungsform war mahnend, sehr würdig und trotzdem hoffnungsfroh. Der Lesungsteil hätte durchaus noch mehr Besucherinnen und Besucher verdient. Auch schade, dass die im Programm ankündigte Fotoausstellung "HITLERS ZORN - meine Sicht bei den Filmaufnahmen 2018/2019 in Bad Sachsa" von Ralph Boehm bereits abgehängt war.

Was bleibt sind der Zuspruch der Gäste sowie die abschließenden lobenden Worte von Friedrich-Wilhelm von Hase, die er im Borntal sprach: "Ich bin froh und dankbar bei dieser schönen Veranstaltung dabei gewesen zu sein. Den Organisatoren ist es eindrücklich gelungen, einen Bogen von der Vergangenheit bis hin in die Gegenwart zu schlagen!"


Grundschülerinnen und Grundschüler malten Plakate

(v.l.): Bürgermeister von Bad Sachsa, Daniel Quade, Ralph Boehm, Förderverein Heimatmuseum Bad Sachsa e.V. mit Michael Heuer, Film- und Fernsehproduktion

v.l.: Ralph Boehm, Michael Heuer, Rainer Goerdeler, Friedrich-Wilhelm von Hase, Irina Kiyashko mit Geige, Carl Goerdeler und Helga Schubert

Die folgenden Bilder können Sie vergrößern, wenn Sie ein Eseltreiber-Abo haben:




Weiße Friedenstauben warten auf ihren Einsatz

Gebastelte Friedenstauben wurden verteilt

Schülerinnen und Schüler der Grundschule Bad Sachsa sangen und tanzten


Großer Andrang im Kurpark von Bad Sachsa

Grete Boehm sang Sag mir, wo die Blumen sind

Irina Kiyashko (Ukraine) an der Geige und Stella Perevalova (Russland) am Klavier sorgten für schöne musikalische Momente

Michael Heuer (mit Mikrofon) stellte eine Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine vor. Ganz links Larisa Gertz, die in der Flüchtlingshilfe Bad Sachsa tätig ist

Grundschülerinnen und Grundschüler malten Plakate

v.l.: Rainer und Carl Goerdeler, Enkel vom Widerstandskämpfer Carl Friedrich Goerdeler, Stella Perevalova

v.l.: Nathalie Thiede, Deutsches Theater Göttingen, mit Annika Schuchardt nach ihrer Lesung

Helga Schubert, Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin, liest Gesucht: Goerdeler aus ihrem Buch Judasfrauen

Erika Schirmer, Komponistin des Liedes Kleine weiße Friedenstaube mit Michael Heuer

An historischer Stätte des ehemaligen NS-Kinderheimes im Borntal

 

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