Kultur / Rezensionen

02.04.2022

Wollen wir eine Welt ohne Verbrechen?


Die tiefgründigen Fragen im Manga „Death Note“

von Christian Dolle

Was wäre, wenn du einen Menschen töten könntest, in der Gewissheit dafür nicht belangt werden zu können? Wenn du jemanden, der dieser Welt schadet, sozusagen aus dem Spiel nehmen könntest, ohne dass herauskommt, dass du es warst? Würdest du einen Verbrecher, einen Mörder eliminieren, bevor er weiteren Schaden anrichten kann?

Das ist die Grundfrage, die im Manga „Death Note“ aufgeworfen wird. Light Yagami findet ein Heft, von dem er erfährt, wenn er dort einen Namen einträgt, stirbt dieser Mensch, ohne dass jemand Rückschlüsse auf ihn ziehen kann. Von da an wächst in ihm der Wunsch, die Gesellschaft von Schwerverbrechern zu befreien und die Welt somit besser zu machen. 

Auf der anderen Seite steht L, der mit den Ermittlungen dieser unerklärlichen Mordserie betraut wird und nun all seine Genialität aufwendet, um hinter die Geheimnisse zu kommen und den aus dem Verborgenen agierenden Täter zu enttarnen. Das wird schnell zum geistigen Duell der beiden und entwickelt sich schließlich zu einer Mischung aus Mystery, Thriller und immer auch gedanklichem Experiment. 

Kultstatus

Unter Mangafans, also Otakus, genießt die Serie Kultstatus, es gibt mehrere Verfilmungen, gerade die Figuren Light, L und auch der Todesgott Ryuk sind längst fester Bestandteil der Popkultur geworden. Dennoch ist Manga hierzulande eben leider immer noch ein unterschätztes Genre und gerade „Death Note“ hat so viele brillante Krimielemente und vor allem eben philosophische Hintergrundüberlegungen zu bieten, dass eine weitere Rezension auch fast zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes von Tsugumi Ōba und Takeshi Obata ihre Berechtigung hat. 

Die zentrale Handlung ist wie gesagt das intellektuelle Duell zwischen Light als gerissenem und einfallsreichem Täter und L als analytischem und verbissenen Detektiv, das vor allem davon lebt, wie nahe die beiden sich sind und dass jeder noch so kleine Fehler sich zugunsten des anderen auswirken kann. In der japanischen Krimiliteratur scheint dieses Prinzip beliebt zu sein, so handelt beispielsweise auch der Roman „Verdächtige Geliebte“ von Keigo Higashino von einem Mord, bei dem der eine ein perfektes Alibi konstruiert, während sein Gegenspieler damit befasst ist, unwiderlegbare Beweise zu suchen. 

Doch in „Death Note“ ist das eben nicht das einzig Spannende. Zum Beispiel ist da ja noch die Welt der Todesgötter und damit die Fragen, was es eigentlich mit dem Death Note auf sich hat, wie es in unsere Welt gelangt, welche Regeln für das Heft und die Tode gelten und und und. Die Erklärungen  zur Welt der Todesgötter sind spärlich gesetzt, doch auch sie werfen in den wenigen Szenen und aussagekräftigen Bildern viele spannende Assoziationen auf. 

Gott spielen?

So gibt es ziemlich am Ende eine Zeichnung, die für mich die Existenz von Paralleluniversen nahelegt, was so viele weitere Fragen aufwirft und wo sich die Geschichte ohnehin noch in so viele Richtungen weiterspinnen ließe. Doch genau diese Welt bleibt angenehm im Hintergrund, es kommt nur auf das Agieren der Todesgötter in unserer Welt an. Als das fantastische Element dieser Geschichte sind sie somit für meinen Geschmack sehr klug eingesetzt, vor allem auch, wenn Ryuk immer wieder betont, dass er das Heft nur in unsere Welt brachte, weil er neugierig ist, was es anrichtet. 

Im letzten Drittel der Serie geht es immer mehr um die neue Weltordnung, die Light sich wünscht und an der er arbeitet, also eine Welt ohne Verbrechen, eine Welt, in der Böses umgehend bestraft wird, während es seiner Meinung nach in unserer jetzigen Welt häufig zum Ziel führt. Lights Wunsch ist definitiv nachvollziehbar, es sind anfangs sogar in gewisser Weise edle Motive. Doch natürlich stellt sich hier die moralische Frage, inwieweit es richtig sein kann, Gott zu spielen. 

Und ist ein Gott, der uns für jedes Vergehen umgehend bestraft, uns damit also letztlich unseren freien Willen in Bezug auf Entscheidungen für gut oder böse nimmt, wirklich ein Gott, der die Welt besser macht? Solche Fragen werden immer mal wieder aufgeworfen, durch die Augen verschiedener Protagonisten betrachtet, aber letztlich gibt es eben keine plakativen Antworten darauf. Auch das ist definitiv eine große Stärke des Manga, dass es dem Leser gar nicht so leicht gemacht wird, eindeutig Position zu beziehen. 

Auf jeden Fall Literatur

Die zweite größte Stärke ist meiner Meinung nach, dass die Story zwar im Kern sehr viel Mitdenken erfordert und wie gesagt äußerst intelligent gestrickt ist, aber eben trotzdem immer Manga bleibt, also mit allen Übertreibungen, aller überbordenden Fantasie und auch mit dem nötigen Humor, um eben nicht als schwere literarische Kost daherzukommen, sondern als unterhaltsame, kurzweilige und ein bisschen verrückte Geschichte, in der die Protagonisten über die Dauer ans Herz wachsen, so dass sie eben auf mehreren Ebenen funktioniert. 

Das nämlich ist es, was Literatur ausmacht, dass sie im Grunde alte Stoffe immer wieder komplett neu verpackt und damit neue Leser erreicht. Nun wird es viele Literaturwissenschaftler geben, die sich auf keinen Fall mit Mangas befassen würden, weil ja schon Krimis allein der Unterhaltung dienen. Doch genau das ist nach meiner Überzeugung eben nicht der Fall. Literatur darf alles und alles kann Literatur sein. Denn nur dann kann sie auch relevant bleiben, Teil der Popkultur bleiben und damit die tieferen Gedanken Menschen nahebringen. 

Aus diesem Grund bin ich so froh, dass es neben den Verfilmungen inzwischen auch einige Light Novels, also klassische Erzählungen, zu Death Note gibt, eine Hörspielserie, die sich klar an der Mangavorlage orientiert, aber trotzdem einige neue Aspekte hinzufügt, oder auch ganz aktuell einen Mangaband mit Kurzgeschichten, die einige Ideen vertiefen oder weiterspinnen. Für mich als Fan gäbe es noch so vieles, was ich wissen will, wo ich tiefer in diese Welt eintauchen möchte. Vielleicht gibt es ja den einen oder die andere, die Death Note noch gar nicht kennt und die ich jetzt ein wenig neugierig gemacht habe. 

Diese Rezension gibt es auch zum Hören:


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