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14.01.2021

Erfolgsgeschichte Integration: von Kasachstan nach Deutschland


v.l.: Eine musikalische Familie: Karolina mit Vater Jurij, Alexander, Erik und Mutter Lidia

Familie Batzel kam in den 1990er Jahren aus Kasachstan nach Deutschland. Dank vieler Unterstützer sind sie in der neuen „alten“ Heimat angekommen

...von Herma Niemann

In den 1990er Jahren kamen Hunderttausende Russlanddeutsche als Spätaussiedler nach Deutschland, in die alte Heimat ihrer Ahnen. Eine Familie davon war die Familie Batzel aus Teichhütte.

Die Familie Batzel, das sind der Vater Jurij (56 Jahre), Mutter Lidia (47 Jahre), Tochter Karolina (27 Jahre) und die beiden Söhne Erik (25 Jahre) und Alexander (19 Jahre). Die beiden Söhne sind in Deutschland geboren. Der Vater Jurij war der erste der Familie, der im Oktober 1994 aus dem Heimatort Pawlowka (Kasachstan) nach Deutschland kam. Mutter und Tochter – Karolina war gerade über ein Jahr alt - folgten im April 1995. „Wir lebten zwar in Kasachstan und sprachen russisch, aber wir haben deutsche Wurzeln“, erzählt Lidia, die erklärt, dass ihre und Jurijs Großeltern in Kasachstan noch Deutsch gesprochen hätten. „Als Russlanddeutscher denkt man immer daran, dass man eigentlich Deutscher ist, und dass man dahin gehört, von wo man einst hergekommen ist“, so Jurij.

Die erste Wohnung bezogen sie damals in Bad Grund. In ihrer jetzigen Wohnung in Teichhütte wohnt die Familie seit 1998 und fühlt sich dort sehr wohl. „Wir haben hier eine sehr gute Nachbarschaft und man kennt jedes freundliche Gesicht“, sagt Lidia. Mal würde man zusammen mit den Nachbarn grillen, Kricket spielen oder einfach im Garten sitzen. Hin und wieder werde auch mal eine Leinwand aufgebaut und zusammen Filme angesehen. Dennoch sei der Anfang in Deutschland schwierig gewesen, weil man noch keine Arbeit hatte und die deutsche Sprache noch nicht beherrschte. „Irgendwann versteht man zwar immer mehr, kann aber noch nicht richtig sprechen und traut sich auch nicht richtig“, so Lidia über die damaligen Hemmungen. Sprachkurse folgten, sodass es nach und nach besser wurde. Ihr persönlich habe es auch beim Erlernen der Sprache geholfen, sich mit den Kindern Disney-Filme anzusehen.

Von Anfang an habe sich die Familie im Übrigen dazu entschlossen, kein russisches Satellitenfernsehen einzurichten. „Ich weiß noch, dass ich ganz besonders bei dem Wort Entschuldigung große Probleme und einen Knoten im Mund hatte“, erinnert sich Lidia schmunzelnd. Als die beiden immer sicherer im Sprechen wurden, sei das wie ein Gefühl von Freiheit gewesen. Ein weiteres Problem gestaltete sich jedoch bei der Arbeitssuche. Jurij ist studierter Musiklehrer, spielt Trompete, Saxophon und Keyboard. Aber die beiden Diplome von Jurij von der pädagogischen Kunsthochschule in Kasachstan in den Fachrichtungen Bläser/Jazz und Trompete wurden zunächst nicht anerkannt. Die beiden Studiengänge liefen jeweils über vier Jahre. Für die Anerkennung als Musiklehrer musste die Familie über zwei Jahre kämpfen und auch immer wieder Unterlagen nachreichen.

In der Zwischenzeit arbeitete Jurij auch für die damalige Samtgemeinde Bad Grund als Maler und Anstreicher und unter anderem auch bei der Fuba als Arbeiter. „Arbeit ist wichtig“, betonen beide, denn dadurch hätten sie auch viele Kontakte knüpfen können, und auch viele Menschen kennen gelernt, die der jungen Familie Unterstützung anboten. „Mit Hilfe der vielen Unterstützer sind wir ein Teil dieser Gesellschaft geworden, dafür können wir nicht oft genug danken“, sagt Jurij. Viele Menschen hätten mit Taten oder auch manchmal nur mit netten und aufrichtigen Worten geholfen. „Mit Menschlichkeit funktioniert Integration“, betont Lidia. Und zu diesen aufgeschlossenen Menschen zähle auch die ehemalige Grundschullehrerin Gunhild Wilgeroth aus Gittelde, die sich von Anfang an für die Geschichte der Familie interessiert habe.

Nach der Anerkennung der Diplome bewarb sich Jurij bei vielen Musikschulen, unter anderem auch bis nach Salzgitter oder Kassel. Erfolg hatte er zunächst mit einem Praktikum in der Musikschule in Osterode. Eine Chance habe ihm dann Christine Büttner von der Musizierschule Musi-Kuss in Göttingen gegeben, wo Jurij als Musiklehrer auf Honorarbasis arbeitet. Jurij etablierte dort die Musi-Kuss-Big Band, die schon bei vielen Auftritten im Landkreis begeisterte. Lidia arbeitet inzwischen schon lange in einem Bekleidungsgeschäft. Karolina arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten, Alexander macht gerade sein Abitur und Erik ist dabei, seinen Master in Architektur abzulegen.

Dennoch liegt Musik und Kultur bei Familie Batzel im Blut. Schon Jurijs Vater, Andreas Batzel, war in Kasachstan ein angesehener Mann, Trompeter und Leiter des Kulturhauses in Pawlowka. Im Jahr 1991 wurde ihm der Ehrentitel „Geehrter Kulturmitarbeiter der Republik Kasachstan“ verliehen. Auch die Kinder von Jurij und Lidia haben das Spielen auf Musikinstrumenten gelernt. Auch wenn nicht mehr alle aktiv musizieren, werden jedoch zu besonderen Feierlichkeiten im Freundes- oder Familienkreis die Musikinstrumente hervor geholt. „Im Vorfeld versuchen wir dann, das Lieblingslied desjenigen heimlich herauszufinden, und das wird dann als Überraschung an dem Festtag gespielt“, so Karolina.

Die Frage, ob sie nicht manchmal doch ihren einstigen Heimatort vermissen, verneinen Jurij und Lidia. „Man vermisst manchmal die Freunde und die ehemaligen Klassenkameraden, aber die Infrastruktur in dem einst florierenden Ort Pawlowka ist leider inzwischen stark herunter gewirtschaftet“, so Lidia.

Infokasten

Als Russlanddeutsche werden die Nachfahren von Siedlern aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa bezeichnet, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen des Russischen Reiches niedergelassen hatten. Den Begriff „Russlanddeutsche“ gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert. Zuvor standen die konfessionellen und regionalen Unterschiede zwischen den evangelischen, katholischen und mennonitischen Kolonisten an der Wolga, im Schwarzmeergebiet, in Wolhynien, im Kaukasus und in anderen Regionen des Russischen Reiches im Vordergrund. Amtlich wird zwischen Aussiedlern (bis 1993 zugewandert) und Spätaussiedlern (seit 1993 zugewandert) unterschieden.


Mutter Lidia mit der kleinen Karolina in den 1990er Jahren kurz nach der Ankunft in Deutschland

 

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