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15.11.2020

Einsamkeit


von Johannes Nordmann

Es hat lange Überlegungen gebraucht, das Folgende zu Papier zu bringen. Es soll auch nicht wie sonst von meiner Seite eine frei erfundene, lustig-ironische Geschichte sein, sondern ein Bericht über etwas, was sich wirklich zugetragen hat. Damals, 1985, während meiner ersten, fast sechswöchigen Reise mit Zwischenstopps in Island durch die USA, Mexiko und Kanada: Fast 16 000 Km voll von großartigen Naturwundern und umwerfenden Erlebnissen.

Bei diesem Erlebnis hier, dreht es sich um ein mächtiges Tier, eine wunderbare junge Frau, einen Mann mittleren Alters und um -- Einsamkeit.

Ich war den ganzen Tag im Yellowstone-Nationalpark herumgefahren, hatte mir die vielen heißen Quellen, die wassersprühenden Geysire und kochenden Schlammlöcher angeschaut. Auch einige Elche und Wapitihirsche, von den vielen kleinen Tieren ganz zu schweigen, waren bei meinen kurzen Wanderungen zu beobachten.

Nun war es Abend und ich fühlte mich nicht recht wohl. Schon am Nachmittag beim Old Faithfull, dem mit fünfundsechzig Metern höchsten Geysir, hatte ich mich von der Touristenmasse abgesondert. Die Wasserfontäne schießt ca. jede Stunde auf volle Höhe und es war noch genug Zeit bis dahin.

Dieses oberflächliche "Aah" und "Ohh", wenn sich nur etwas Wasserdampf bildete, hatte mich genervt und ließ mich einen ruhigen Platz abseits suchen. Außerdem hatte ich anfangs der Reise auf Island, der Insel der Vulkane und Gletscher, Feuer und Eis, also auch in wunderbarer Natur, einen sehr schönen Geysir erlebt. Zwei Tage, die sich ebenfalls gelohnt hatten, obwohl ich diesen Inselstaat schon ein Jahr davor genießen durfte.

Am Old Faithfull wollte ich für mich allein sein, aber hier abseits an mehreren teichgroßen heißen Quellen hatte ich plötzlich das Gefühl von erdrückender Einsamkeit. Ich hätte gern mit jemandem geredet. Wenn doch nur einer meiner wirklichen Freunde hier wäre, dem ich sagen konnte, dass diese Reise mit diesen vielen umwerfenden Eindrücken mich schon nach vier Wochen soweit gebracht hatte, dass ich fast nichts mehr aufnehmen konnte. Und es sollten noch zwei Wochen folgen.

Bei Einsamkeit, ich meine nicht Alleinsein - das sind zwei verschiedene Dinge - gibt es die Möglichkeit, sich durch angenehm zärtliche Zweisamkeit abzulenken. Dies war im Moment nicht möglich. Mir war auch plötzlich mehr nach meinem Freund Roar aus Norwegen. Mit ihm sprechen, erzählen, sich über Dinge und Dummheiten unterhalten, die wir in unserer langjährigen Freundschaft gemacht haben. Das wünschte ich mir.

Die haushohen Dampfschwaden ragten mehr und mehr gespenstisch in den Abendhimmel. Mein Einsamkeitsgefühl und die Hilflosigkeit dem gegenüber wurde immer stärker. Ich ging zurück zum Parkplatz. Schilder wiesen darauf hin, den Park abends zu verlassen. Und ein Schild mit der Warnung: Buffelos are wild animals - Enjoy them at a distance! Büffel sind wilde Tiere. Genieß sie aus der Entfernung.

Vom Parkplatz bis zur Hauptstraße war es nicht weit, ich bog noch schnell vor einer kleinen Autoschlange, die wohl auch auf dem Weg aus dem Park war, ein, um in Richtung einer kleinen Touristenstadt zu fahren. Ich hatte ein wenig die Vorfahrt genommen, denn ich wollte vermeiden, dass eines dieser vielen verschiedenen Tiere, die ja bekanntlich ihre Futterwanderungen gegen Abend und im Morgengrauen unternehmen, von einem Fahrer, im Wagen vielleicht abgelenkt, übersehen und angefahren wird.

Ich setzte mich von daher an die Spitze der Kolonne und hatte gerade diesen Gedanken zu Ende gesponnen, als ich auch schon etwas großes Braunes weit vorn im Scheinwerferlicht deuten konnte. Ich dachte: Ein Bär? Schnell die Warnblinkanlage an und vorsichtig heranfahren. Dann konnte ich es erkennen, es war kein Bär, sondern ein Büffel. Er ging auf der linken, äußeren Straßenseite in Fahrtrichtung. Langsam fuhr ich zu ihm auf und beobachtete ihn durchs Fenster. Dann kam mir die Idee, die anderen Autos wieder vorbeizulassen, um dieses Schauspiel in Ruhe genießen zu können.

Die fünf oder sechs Autos fuhren langsam vorbei, es wurden Aufnahmen mit Blitzgerät gemacht. Der Büffel, dieser Koloss aus Muskeln ging mit seinem tief gesenkten Schädel unbeirrt weiter. Nach einiger Zeit waren die Autos verschwunden. Ich fuhr wieder auf fast gleiche Höhe auf, so dass das Tier halblinks neben dem Auto noch so eben vom Scheinwerferlicht erfasst wurde.

So ging es eine Zeitlang im Büffelschritttempo. Es war beeindruckend, ja spannend.
Wie unter einer Art Zwang fuhr ich dann 50- 60 Meter vor, stieg aus und stellte mich rechts vor dem Wagen an die Straße, selbstverständlich hatte ich das Licht angelassen. Ich konnte den Büffel kommen hören, er blieb auf seiner Seite.
Doch dann im Scheinwerferlicht dieser Blick, nur sein rechtes Auge war zu sehen, ließ mich erschauern. Büffel mögen wohl dunkle, braune Augen haben, aber als das große Tier mir genau gegenüber war, drehte es das Auge, ohne den tief gesenkten Kopf zu bewegen, so in meine Richtung, dass fast nur das Weiße zu sehen war. Es war unheimlich, ja fast gespenstisch.

Ich wiederholte das Spiel mit dem Feuer noch einmal, dann wurde ich mutiger und ging nach dem nächsten Stopp ein paar Meter mit. Ich weiß nicht, wie oft ich dies gefährliche Spiel wiederholt habe - es gab keine Wirklichkeit mehr um mich herum.
Ganz zum Schluss bin ich soweit mit dem Tier gegangen, dass das Scheinwerferlicht kaum mehr wahrnehmbar war und nur zwei helle Punkte hinter uns auf der Straße zu erkennen waren. Wir liefen quasi Seite an Seite im Dunkeln, ich konnte nur das weiche, gleichmäßige Aufsetzen seiner Hufe hören.

Dann war es genug - ich konnte einfach nicht mehr, blieb stehen: "Good bye ‘Old Fellow’ and good luck, take care!" Mach's gut alter Bursche, viel Glück und sei auf der Hut. Auf dem Weg zurück merkte ich, wie eine starke Anspannung von mir wich. War das Wirklichkeit? War das ein einmaliges, wunderbares Erlebnis? Noch heute erfüllt es mich noch immer mit einer Art Fassungslosigkeit.

Die Gedanken bis zu den Lichtern der kleinen Stadt am Ausgang des Parks kann ich nicht wiedergeben. Ich war einfach weg und kam erst durch die grelle Reklame wieder zu mir. Ich fühlte mich jedenfalls nicht mehr einsam. Gab es doch noch jemand, der Abseits von der Herde lieber allein seinen Weg ging? Ich fühlte eine Art Stille in mir.

Mir war nach einem Bier, aber nicht in einer Disco oder einer Touristenkneipe. Bloß das nicht, nicht jetzt! Ich suchte und fand eine nette, abseits gelegene Kellerbar, sogar ziemlich leer. Lohnte es sich überhaupt, mit jemanden über das Erlebnis zu sprechen?
Wohl kaum, denn erstens war es so unglaublich und zweitens hört in unserer oberflächlichen Gesellschaft sowieso kaum jemand richtig zu, oder unterbricht schon mit seinen eigenen Dingen oder Problemen.

Nun gut, es gibt eben viele schlechte Zuhörer, aber auch nur wenige Erzähler, die wirklich etwas sagen. Mein Bier stand vor mir, ich nippte noch immer gedankenverloren daran, bestellte noch eines und überlegte, wo ich wohl am besten übernachten konnte. Ich war etwas irritiert, als mich eine weibliche Stimme fragte, ob sie sich zu mir setzen dürfte. Natürlich durfte sie. Sie saß neben mir, jung, hübsch und mit den schönsten Vorzügen der Weiblichkeit. Sie nestelte ein wenig nervös am Strohhalm ihres Getränks, welches sie von irgendwo mitgebracht hatte. "Warum so nervös?" fragte ich, um meinerseits einen Schritt zu tun.

"Ich habe gesehen, wie du hier so allein bei deinem Bier sitzt. Ich bin heute auch allein, sehr allein, denn ich habe heute Geburtstag. Ich arbeite hier in den Sommerferien und meine Freunde sind weit weg -- zu Hause......" sagte sie gedankenverloren. "Du bist hier unter mehreren Menschen in diesem Raum, also nicht allein. Du fühlst dich einsam, aber das kann man auch unter Tausenden sein“, gab ich ihr zu denken.

Sie antwortete: "Ja, das ist es wohl. Ich hatte das Gefühl, dass es dir ähnlich geht und das gab mir dem Mut, mich zu dir zu setzen." "Da kenne ich eine Geschichte, in der Einsamkeit vorkommt, möchtest du sie hören?" fragte ich sie. "Ja gerne" antwortete sie und so erzählte ich ihr mein Erlebnis mit dem Büffel, und wie es dazu kam. Danach schaute sie mich lange, mit nachdenklichem Blick an, was mich etwas verwirrte.

Dann nahm sie meine Hand und sagte: "Komm, lass uns von hier weggehen."
Wir haben einander zugehört - eine ganze Nacht lang, in vertrauter Zweisamkeit...


Dieser Waldbüffel hat mich vor 3 Jahren eine Zeitlang am Tag neben dem Alaska Highway begleitet


 

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