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27.09.2020

Der Nabel der Welt


von Johannes Nordmann

Es geschah im Oktober 1998, am Wochenende, in der Nacht vom Samstag auf Sonntag, fast Mitternacht. Es zog mich wieder hinaus, hoch in das kleine Harzgebirge, an dessen Rand ich lebe. Also raus, ins Auto, laute Musik von Joe Cocker aus dem Album "Night calls" an und los, hinein in die Nacht mit dem noch fast vollen Mond.

Weit kam ich nicht, denn gleich am Parkplatz beim "Heiligenstock" stand SIE schon. Ließ mich unweigerlich anhalten, ohne dass SIE den Arm ausstreckte. "Brich Dir nicht die Flügel", sagte ich lächelnd zu ihr, als sie einstieg. "Ich bin nicht dein Schutzengel!" "Dann bist du die gute Fee?" schaute ich sie mehr fragend als feststellend an und fuhr auf den Parkplatz, um auf die Lichter meiner Heimatstadt Osterode und ihrer Vororte herab zu schauen. "Hier ist einer deiner vielen 'heiligen Plätze'!" antwortete sie nur.

Sie sah verlockend aus, nicht so ein fades, ausdrucksloses Gesicht wie das der meisten Models oder so genannten Vorbildschönheiten aus der Werbung, sondern richtig niedlich und interessant; kleine Stupsnase, volle Augebrauen, ganz einfach faszinierend zum Anschauen. Leider als geisterhaftes Wesen der Nacht absolut ein sexuelles Neutrum.

"Ich hab Dich jetzt seit Donnerstag, seit dem Vollmond beobachtet. Jede Nacht fährst Du raus, Musik laut und ab geht es. Was ist denn wieder los mit Dir?" fragte sie. "Unstetigkeit, Fernweh, zu viel Power, einfach Gänsehaut auf der Seele," antwortete ich. Der alte Joe dröhnte gerade "When a woman cries" durch den Lautsprecher. "Ich hebe zur Zeit einfach ein wenig ab. Wenn Du aber so eine Art Fee bist, habe ich dann vielleicht ein paar Wünsche frei?"

"Was willst Du denn noch? Die letzten Monate haben Dir doch Optimales gebracht. Fitness, viele Reisen, den Abstieg in den Grand Canyon, einen Marathon, Besteigung von zwei 4000 m hohen Bergen und wunderbare Zweisamkeit. Du hast dein Ziel aus der Jugend, den Fuß auf jeden bewohnten Kontinent zu setzen, inzwischen doch wenigstens fünf mal erreicht. Du weißt doch schon gar nicht mehr, wie oft es dich in die große weite Welt hinausgetrieben hat. Warum denn noch mehr?"

"Von diesen Dingen wird man doch erst recht süchtig," grinste ich sie an, "und ohne erfüllbare Träume, Wünsche und Ziele kann ich nicht leben." "Angenommen, ich könnte Dir einige deiner Wünschen erfüllen, wenn du dich mir anvertraust!" Ich brauchte nicht lange zu überlegen.

"Erst einmal das Wichtigste: Körperliche und geistige Gesundheit für meine Familie, Freunde und mich. Rationelles, klares Denkvermögen sprich gesunden Menschenverstand. Habe ich dies alles, kann ich die meisten Ziele selbst erreichen. Ansonsten möchte ich halt gesund alt werden und nie lange leiden oder dahinsiechen. "Sehr vernünftig," nickte sie zustimmend "Weiter!"

"Auf der Nordhalbkugel der Erde wird es jetzt Winter. Es wäre toll, einmal in meinem Leben in einer Vollmondnacht in Alaska, Nordnorwegen oder in ähnlich wunderbarer Natur Wölfe heulen zu hören. Erst am Kaminfeuer in einer Blockhütte sitzen und dann in die klirrende Kälte und dann diese wunderbaren Tiere auch sehen" sinnierte ich. "Auf der Südhalbkugel wäre da der Chacaltaya in Bolivien mit 5300 m zu besteigen. Den traue ich mir mit entsprechendem Training zu. Ja, mal wieder nach La Paz, in die Anden, an den Titicacasee, aufs Altiplano und nach Tiuhanacu, woooaaahhh, das wäre es jetzt; gleich Morgen ins Flugzeug und ab geht es!"


Ich schwieg ein bisschen nach diesen Gedanken, die Seele flog hoch und es kribbelte. "Als weiteres Ziel danach noch der Chimberazzo mit 6310 Metern der höchste Punkt der Erde.." "Der höchste Berg ist der Mount Everest!" unterbrach sie mich. "Ja, das ist der höchste Berg, aber vom Mittelpunkt der Erde aus gerechnet ist der Chiberazzo mit 11015 Metern eigentlich der höchste Punkt, weil unser Planet an den Polen "abgeglattet" und am Äquator "aufgebaucht" ist. Also in diesem Sinne eigentlich doch der höchste Berg und wäre so für mich, was Höhe überm Meeresspiegel betrifft, machbar und die Erfüllung. Sozusagen der Orgasmus für die Seele. Es stört mich nur, dass so ein Abenteuer ohne erfahrene Führer wohl nicht machbar ist. Wenn man aber erst mal weiß, wie so was geht, könnte man es auch mal allein versuchen. Nach dem Motto: Entweder der Berg, oder ich. Das prickelt mehr."

Sie lächelte: "Das sind also deine Wünsche !" "Nein, nein. Das mit der Gesundheit ist mein innigster Wunsch. Das zuletzt Erwähnte ist dann alles machbar. Nur brauchte ich einen kleinen Wink, eine Art Schupps, es zu tun. Außerdem wäre da noch eine Weltreise über alle bewohnten Kontinente auf einmal. So über Island nach Nordamerika, dort von Denver durch die Rockies, Besteigung eines Viertausenders, durch weiterer Nationalparks der USA bis nach San Franzisko. Weiter nach Asien, Singapur und Nachbarstaaten Malaysia und Indonesien. Von dort nach Darwin in Nord-Australien, mal wieder in den Kakadu Nationalpark, zum Ayers Rock und zuletzt nach Perth und Umgebung. Als Abschluss über Afrika mit Besteigung des Kilimandscharos und einer Safari zurück nach Europa.

Halt, von San Franzisko könnte man ja noch einen Abstecher nach Feuerland in Südamerika machen, da würde ich ganz gern noch mal hin. So ein richtiges "Höhlenweibchen" würde auf dieser Reise als Begleitung gut tun... "

Was denn, Du und auf eine längere Zeit nicht auf eigene Faust reisen, das kenne ich ja gar nicht." Sie runzelte die Stirn: " Was hat das zu bedeuten ?" "Es ist ja nur so eine Idee, denn wenn mich dieser weibliche Mensch, den ich inzwischen kennen gelernt habe, meine Lachmuskel und auch einiges anderes bis zum Letzten gebracht hat, glaube ich, das es schon eine verrückte Reise werden könnte. Ansonsten schenke ich mir dieses zu meinem 60zigsten Geburtstag, man gönnt sich ja sonst nichts !"

"Übertreib nicht! Und wieso Höhlenweibchen?"

Ich denke über mich, dass ich die heutige hochkomplizierte High-Tec zwar einigermaßen beherrsche, aber in mir sind die Instinkte des Höhlenmenschen noch wach und sie beherrschen mein Denken und meine Gefühle. Also passt nur ein ähnliche Gegenstück zu mir. Und taste doch mal die Auswölbungen zwischen Stirn und Auge bei mir ab."

Sie fühlte: "Stimmt, der reinste Neanderthaler "

Na ja, ich muss auch zugeben, dass ich von etwas träume, wofür ich sehr viel geben würde. Du weißt, materielle Dinge bedeuten mir nicht allzu viel, Autos, Gold und ähnliches sind für mich nur glitzerndes Blech. Falls ich einmal alles verlieren würde, würde ich wohl am Meisten meinen ca. 20 000 Reise-Dias nachtrauern. Aber in der Erinnerung leben diese schließlich auch und das kann kein Geld der Welt aufwiegen. Nur für das absolute benteuer brauchte ich Geld. Nur werde ich, wenn das möglich ist, schon lange nicht mehr leben.

"Das wäre?" fragte sie gespannt.

Ich möchte einmal ins Weltall geschossen werden, einige Erdumrundungen absolvieren, dann allein auf dem Mond landen und auf der Rückseite des Mondes die Musik von Pink Floyd "The dark side of the moon" hören.

"Wie viel wäre es dir wert?"

"Halt, halt! Meine Seele und ich, wir sind nicht käuflich. Es wird wohl eine schöne Illusion bleiben." "Kommt Zeit, kommt Rat, wer weiß.." schaute sie mich vielsagend an, so dass ich gleich weitermachte. "Es gibt da noch etwas ganz Verrücktes, und zeitweise bin ich nun mal verrückt, das ....."

"Zeitweise ???" unterbrach sie grinsend.

"Das habe ich schließlich schriftlich...;...und ganz ehrlich, die eigentlich lebenswertere Zeit meines Daseins !!! Also ich möchte gern mal mit so einem Supertruck, dem Truck of Trucks von Key West in Florida quer durch die Vereinigten Staaten nach Kanada und Alaska fahren. "Da warst du doch schon überall und auch mehrmals. Warum mit einem Supertruck und was ist das überhaupt ?" "Das Ding, dieser LKW, an sich müsste pechschwarz lackiert und die Details chromglitzernd sein, irre viel PS haben. Nicht um zu rasen, sondern wegen des Klangs. Die Kühlerhaube in Form eines tiefgesenktem Büffelkopfes. Als Dekor an dem Auflieger ein weißer Wolf auf seiner einsamen Fährte, der den Mond anheult. Das gesamte Cockpit inklusive Schlafraum ausgelegt mit weißem Schaffell und als Co-Pilotin eine Frau mit der dunklen Haut und dem Fahrgestell der Sprinterinnen Gail Devers oder Marlen Ottey. Sie dürfte auch gern nur das kleine Rote anhaben! Auf jeden Fall sollten wir prächtig aufeinander passen.

Vom Spätfrühling bis Sommer die Fahrt Richtung Norden, zurück in der Juli-August Zeit durch die wunderbare Natur des nordamerikanischen Kontinents, allerdings mit einem weißen Truck und schwarzem Wolfsdekor. Schwarzer Innenausstattung und einer sonnengebräunten Skandinavierin, gern mit dunkelblauer "Kleidung".
Ja, das wär's doch mal" sagte ich gedankenverloren.

Tief aus ihrem Innern klang ein herrliches, verständliches Lachen zu mir herüber.

"Die Geisterstunde ist gleich vorbei, erzähl mir noch etwas über die sonstige Ladung deines Superfahrzeugs ?" fragte sie noch, sich langsam ins Nichts auflösend. Spontan rief ich ihr hinterher: "Eine Milliarde bunter Schmetterlingeeeee..........."

Und dann ging es die Bundesstraße 341 wieder runter, in Richtung der Lichter meiner Geburtsstadt Osterode am Harz, in die ich nach jeder der unzähligen kleinen und großen oft abenteuerlichen Reisen gern zurückkehre. Denn hier sind meine Wurzeln, hier kann ich die Kraft sammeln für die nächsten Exkursionen. In einer Gegend, in der es wunderbare Natur und genügend optimale Freizeitgestaltungen gibt, die ich mit einigen engen Vertrauten genießen kann. Und wenn meine Seele dann irgendwann auf die letzte große Reise durch die Unendlichkeit des Weltalls auf die Suche nach gleichgesinnten Seelen geht, ja dann wünschte ich, dass der Rest von mir nach Indianerart beim Dorf Düna, da, wo dort jährlich das Osterfeuer in der Nähe der Jettenhöhle brennt, die letzte Ruhe findet.

Denn dort bin ich aufgewachsen und dort ist für mich der "Nabel der Welt" !

 

Anmerkung des Verfassers:
Als dieses kürzlich ins Reine geschrieben wurde, sind selbstredend einige dieser Ziele in der Zwischenzeit erreicht worden bzw. gerade in Planung.

 

 

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