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23.05.2020

Ganz schön tödlich: die „vergessene“ Grippe aus Hongkong


In den Jahren 1968 bis 1970 starben weltweit mindestens eine Million Menschen/Das mediale Interesse damals war verhalten

von Herma Niemann

Osterode. Sie sind unsichtbar, wandlungsfähig und passen sich geschickt an. Sie tricksen die Immunabwehr aus und sind ständig auf der Suche nach Wirtszellen, die sie sich zum Untertan machen. Die Rede ist von Grippe- beziehungsweise Influenzaviren. Momentan hat das Corona-Virus die Welt fest im Griff.

Doch bereits seit dem 16. Jahrhundert gab es mehr als 30 Influenza-Pandemien weltweit. Eine davon war die sogenannte Hongkong-Grippe, die in den Jahren 1968 bis 1970 mindestens eine Million Menschen das Leben kostete und als die "vergessene" Grippe bezeichnet wird. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, teilweise wird sogar von zwei Millionen Toten gesprochen.

Die als Hongkong-Grippe bezeichnete Infektionskrankheit brach im Juli 1968 in Hongkong aus und entstand aus einer Kombination von Geflügelpest auslösenden Viren und bereits unter Menschen verbreiteten Influenzaviren. Die weltweite Ausbreitung dieser Viren verursachte die letzte große Influenza-Pandemie des 20. Jahrhunderts. Die Russische Grippe von 1977/78 wird meistens nicht als Pandemie eingestuft.

In Deutschland gab es im Winterhalbjahr 1969/70 den schwersten Ausbruch der Hongkong-Grippe. Amerikanische Soldaten sollen das Virus in der Pfalz eingeschleppt haben. Genaue Fallzahlen sind damals nicht erhoben worden, allerdings wurde im Nachhinein eine Sterblichkeit von rund 40.000 Toten für die Bundesrepublik festgestellt. Verursacher war das Influenzavirus mit der Bezeichnung A/H3N2 in der Variante Hong Kong/1/1968 H3N2. Im Vergleich zur verwandten Asiatischen Grippe von 1957 verlief die Hongkong-Grippe milder, weil die Immunabwehr der meisten Menschen Antikörper gegen das Influenzavirus A/H2N2 enthielt, das die Asiatische Grippe ausgelöst hatte und dem Influenzavirus A/H3N2 ähnelte. Zum Stillstand kam die Ausbreitung der Hongkong-Grippe erst nach dem Erreichen einer sogenannten Herdenimmunität. Eine Herdenimmunität bezeichnet in der Epidemiologie eine indirekte Form des Schutzes, wenn ein hoher Prozentsatz durch Infektion oder Impfung bereits immun geworden ist. Ein Impfstoff konnte damals im ersten Jahr entwickelt werden.

Trotz der vielen Toten blieb die Politik damals wohl weitgehend tatenlos, und auch die Medien berichteten kaum über die Pandemie. Aus den Berichterstattungen, wie zum Beispiel durch das ZDF, wird deutlich, dass die Bevölkerung damals ziemlich sorglos mit der Infektionsgefahr umging und das Risiko eher als gering einordnete. Auch lokale Tageszeitungen berichtete zum Jahreswechsel 1969/1970 über das Grippevirus. Am 31. Dezember 1969 waren demnach in Niedersachsen acht Menschen zu Tode gekommen. Das Sozialministerium rechnete damals damit, dass die Epidemie erst Mitte Januar für Niedersachsen beseitigt sei. Etwa 30 Prozent der Gesamtbevölkerung Niedersachsens waren von der Grippe erfasst. Schwerpunkte sollen Süd- und Mittelniedersachsen gewesen sein.

Weder das damalige mediale Interesse, noch die damaligen medialen Möglichkeiten können mit den Umständen der aktuellen Corona-Pandemie verglichen werden. Aus diesem Grund wundert es auch nicht, wenn viele befragte ältere Menschen aus dem Altkreis Osterode sich nicht mehr an die Existenz und an die Auswirkungen der Hongkong Grippe erinnern können. Dem Gesundheitsamt Osterode/Göttingen liegen dazu ebenfalls keine Informationen vor. Und auch im Stadtarchiv von Osterode gebe es -mit Ausnahme des Zeitungsarchivs - keine Aufzeichnungen über die Hongkong Grippe, wie der Stadtarchivar Ekkehard Eder sagt.

Die aktuelle Corona-Pandemie wird häufig mit der Spanischen Grippe, die im Jahr 1918 ausbrach, verglichen. Dabei ähneln jedoch die Randumstände der Hongkong Grippe, die auch die "vergessenen Grippe" genannt wird, durchaus der aktuellen Situation. Weltweit waren Krankenhäuser überfüllt, in West-Berlin, München und in Hamburg zum Beispiel standen Betten in Fluren, es fehlte an dringend benötigten Medikamenten. Ebenso herrschte ein Bestattungsnotstand, Särge mussten in Gewächshäusern zwischengelagert werden. Als „nie da gewesene Verhältnisse“ bezeichneten Klinikpathologen der Hansestadt Hamburg die besorgniserregende Situation im Jahr 1970.

Betriebe in der Bundesrepublik mussten die Produktion herunterfahren und auch die Schulen wurden geschlossen. Diese Maßnahmen waren jedoch eine Reaktion auf einen Ausbruch in dem Betrieb oder in der Schule gewesen und waren nicht als präventive Gesundheitsvorsorge erfolgt. In der Ausgabe vom 7. Januar 1970 heißt es im Osteroder Kreisanzeiger: „In über der Hälfte aller niedersächsischen Schulen gibt es Grippe-Ferien. Hier beginnt der Schulunterricht nicht schon mit dem Ende der Weihnachtsferien am 7. Januar, sondern frühestens am 12. Januar. Im Verwaltungsbezirk Braunschweig allerdings bleiben die Schulen vorerst nur in der Exklave Thedinghausen und in Braunlage geschlossen. In den übrigen Orten beginnt die Schulzeit zum vorgesehen Termin“.

Auch im Sport gab es Einschränkungen: „Grippewelle entscheidet Handballspiele“, war eine Schlagzeile des Kreisanzeigers. Die Handballteams hatten kaum komplette Mannschaften, da viele Spieler an der Grippe erkrankt waren. Wie auch bei der TSG Badenhausen. Die TSG musste die Spiele gegen TV Jahn Duderstadt und TSC Eisdorf absagen und auf die Punkte verzichten.

Ab unter die Bettdecke. Bettruhe war damals die Heilkur Nummer 1. Schwitzkur, Tee trinken und Pillen schlucken, empfahl Ende 1969 der Osteroder Kreisanzeiger. Zu der Zeit zählte Italien 15 Millionen Grippekranke, die Schweiz einige Hunderttausend, in Frankreich waren es rund 13 Millionen und in England, wo das Virus zuerst angekommen war, 250.000 Menschen. Die Ansteckungsfrist betrug 24 bis 72 Stunden. Je nach Konstitution dauerte die Krankheit zwei bis sieben Tage. Im Gegensatz zum Corona-Virus, waren bei der Hongkong-Grippe nahezu alle Altersgruppen betroffen. Am ersten Tag konnte das Fieber auf 40 Grad steigen, dann wieder auf 38 Grad sinken, um dann wieder auf 40 Grad anzusteigen, bis die Normaltemperatur wieder erreicht wurde. Der damalige Tipp von Gesundheitsexperten: schweißtreibende Grippemittel einnehmen und viel heißen Tee trinken. Danach mindestens eine Stunde unter mehreren Decken liegen, gut ab frottieren und den ganzen Körper mit etwas Alkohol abreiben. Leider sind diese bewährten Hausmittel im Kampf gegen das aktuelle Corona-Virus nicht geeignet. Obwohl bereits im Jahr 1957 die Asiatische Grippe in Deutschland wütete und rund 30.000 Menschen das Leben kostete, war das deutsche Gesundheitssystem nur schlecht auf die Hongkong Grippe vorbereitet. hn

BU

Ende 1969 und Anfang 1970 berichtete der Osteroder Kreisanzeiger über die Hongkong-Grippe. In Niedersachsen waren 30 Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt. Foto Herma Niemann


 

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