Kultur / Rezensionen

09.05.2020

Düstere Bilder aus dem Lost Place


„Das Fleisch der Vielen“ von Kai Meyer und Jurek Malottke

von Christian Dolle

Während einer Demo müssen Jana und Tim vor einem rechten Mob fliehen. Das alte, leerstehende Hotel Astoria kommt ihnen gerade recht, bietet ihnen Unterschlupf. Doch schon bald übt der Lost Place nicht nur eine gewisse Faszination auf sie aus, sondern sie glauben, seltsame Dinge zu sehen. Es hat mit der langen Geschichte des Gebäudes zu tun und ihnen wird klar, dass dieses Haus sie nicht mehr gehen lässt bis sie einige Geheimnisse der Vergangenheit gelüftet haben.

„Das Fleisch der Vielen“ ist ein Comic mit Zeichnungen von Jurek Malottke, basierend auf einer Horror-Kurzgeschichte von Kai Meyer. Letzterer ist als Autor im Bereich der Phantastik bekannt, viele seiner Romane wurden Bestseller, etliche Bücher aber auch immer wieder zu Comics adaptiert. Für Jurek Malottke ist es das erste Comicprojekt und überhaupt ist die Idee, eine Horrorgeschichte auf diese Weise bildlich werden zu lassen ja nun alles andere als alltäglich. Natürlich gibt es das schon, die beiden haben das Rad nicht neu erfunden, dennoch ist es meiner Meinung nach ein durchaus innovatives Projekt.

Tolle Aufmachung

Das liegt auch an der Aufmachung des Buches. Zum einen sind da die Zeichnungen, die mal farblich zurückhaltend, dann in den entsprechenden Szenen aber knallig sind, während sie von der Strichführung vieles nur andeuten, im Vagen und damit der Fantasie des Lesers bzw. Betrachters überlassen. Ganz ehrlich, anfangs dachte ich, der Zeichenstil ist nicht wirklich schön. Ist er im Grunde auch nicht. Aber er ist für diese Geschichte absolut passend, hat mich irgendwann völlig gepackt, weil ich eben doch gezwungen war, mir noch meine eigenen Bilder zu machen.

Noch dazu ist dem Comic die Ursprungsgeschichte angefügt, natürlich ein paar Produktionsnotizen, Skizzen, also das Übliche eben, vor allem aber der komplette Originaltext. Somit konnte ich den im Anschluss lesen, selbst Vergleiche ziehen, tiefer in die Geschichte eintauchen, mir überlegen, was ich vielleicht anders umgesetzt hätte und einfach noch einmal auf einer ganz anderen Ebene an dieses Gemeinschaftswerk herangehen. Gerade aus literaturwissenschaftlicher Sicht – auch wenn jetzt vermutlich einige konservative Akademiker aufschreien, weil ich es wage, „Literaturwissenschaft“ und „Comic“ in einem Satz und auch noch gemeinsamem Kontext zu verwenden – ist diese Kombination aus Original und Adaption für mich ein großes Geschenk.

Doch was ist nun eigentlich mit der Geschichte an sich? Taugt sie etwas? Denn letztlich kann die Aufmachung eines Buches noch so toll sein, wenn die Story mich nicht fesselt, ist alles sinnlos. Zunächst mal: Ja, Demo und Gegendemo, also ein ziemlich aktueller Kontext, das packt mich. Dazu ein Lost Place nicht nur als Kulisse, sondern als zentrales Element, da bin ich sofort Feuer und Flamme. Noch dazu, weil das Hotel Astoria in Leipzig tatsächlich existiert und etliche Zeichnungen deutlich den Fotos gleichen, die man im Netz findet.

In der Realität verankert

Und dann ist da natürlich die Horrorgeschichte, die direkt mit diesem Hotel und seiner Geschichte zu tun hat. Sie ist also durchaus in der Realität verankert, was ich nun mal sehr mag, entwickelt sich dann aber doch gruselig und spannend genug, um auch wirklich Horror zu sein. Großartig hierbei finde ich, dass es nicht plakativ die Bilder sind, die mir Gänsehaut verursachen, sondern das, was sie in meinem Kopf auslösen. Die seltsamen Schatten an den Wänden, die Haare, die zurückgelassenen Telefone, all das ist für sich für sich genommen nicht besonders originell oder angsteinflößend, doch die beiden Autoren schaffen es, dass mich die Atmosphäre in diesem Lost Place total ergreift und meine Fantasie ganz tief in die dunklen Flure und vielleicht sogar noch tiefer zieht.

Natürlich will ich hier nicht spoilern und werde über das Ende und die Deutungsmöglichkeiten der Story jetzt nichts viel sagen. Was mir aber auf jeden Fall gefällt, ist, dass es sie gibt, also dass da ein Hintergrund ist, über den es lohnt, nachzudenken, und der mich vielleicht auch bis in meine Alpträume verfolgt. Es ist jedenfalls keiner dieser Horrorgeschichten, die ich lese, mich kurz grusele und dann zur Seite lege, es ist eine von denen, die mich so schnell nicht loslassen und die mich definitiv auch dazu bringen, den Comic noch einmal zur Hand zu nehmen und noch einmal durch dieses unzureichend vernagelte Loch ins düstere Hotel Astoria zu klettern.


Ausschnitt aus dem Buch

Ausschnitt aus dem Buch

 

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