Kultur / Federkiel

01.05.2020

Walpurgis fällt aus


von Christian Dolle

Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf',
Herr Urian sitzt oben auf.

Goethe: Faust

Wenn die vergangene Walpurgisnacht auch ziemlich ruhig ausgefallen ist, so konnten diejenigen, die genau hingesehen haben, am Himmel dennoch einige Hexen flliegen sehen. Zum Brocken hin und ziemlich schnell auch wieder zurück, denn auch dort wurde die große Party abgesagt. Zum Trost gibt es diese Geschichte, mal wieder zum Lesen oder auch zum Hören. Viel Spaß.

Ein Flügelschlagen vor dem offenen Fenster, dann landete der Rabe auch schon auf dem Fensterbrett und krächzte. Lene erschrak zunächst, dann aber lächelte sie und ging an ihr Smartphone. Sie wusste ja, dass es albern war. Der wahrscheinlich überflüssigste Klingelton der Welt, schlimmer als die Sparabos in den 90ern, sagten ihre Freundinnen oft. Doch Lene mochte den Raben irgendwie, da war sie altmodisch.

Früher hatten eben alle Hexen Raben auf der Schulter sitzen, die sie mit den neuesten Nachrichten versorgten. Damals war es State of the Art sozusagen und wenn schon die Katze selten Notiz von ihr nahm und ihre eigenen Wege ging, wollte sie wenigstens diese alte Tradition wahren.

Um Tradition ging es auch bei dem Anruf ihrer besten Freundin Carla. Um die Tradition der Walpurgisnacht, um genau zu sein. Jene Nacht, in der sich seit Menschengedenken alle Hexen und Hexer, Teufelinnen und Teufel, Dämoninnen und Dämonen mit dem Oberteufel Urian zum ausgelassenen Fest auf dem Brocken trafen. Ja, früher wurden einfach alle Hexen, Teufel und Dämonen geladen, heute wurde selbstverständlich darauf geachtet, dass durchgegendert wurde, damit sich niemand benachteiligt fühlte.

Insgeheim war Lene ein bisschen stolz, dass bei den Hexen schon immer die Frauen den Ton angegeben haben und dass die Hexer im Grunde erst seit Robert Craven und Geralt von Riva so richtig auf den Plan getreten sind. Teufelinnen und Dämoninnen taten sich mit der Gleichberechtigung wesentlich schwerer, die Teufelinnen nicht zuletzt deshalb, weil bisher noch niemand High Heels für Pferde- und Ziegenfüße kreiert hatte.

Jedenfalls wollte Carla mit ihr über das diesjährige Walpurgis sprechen, was sie denn anziehen sollten und ob sie sich nicht einen Besen teilen sollten, falls eine von ihnen zu viel trank und nicht mehr geradeaus fliegen konnte.

„Ist denn sicher, dass Walpurgis dieses Jahr überhaupt stattfindet?“, fragte Lene ihre Freundin. Die bekam am anderen Ende der Leitung beinahe Schnappatmung und regte sich gleich wieder tierisch auf. „Seit dem Mittelalter feiern wir in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai Walpurgis. Nicht einmal wegen der Pest wurde es damals ausgesetzt. Da wird uns wohl so eine kleine Grippepandemie nicht davon abhalten!“

Lene schüttelte den Kopf und war froh, dass Carla es nicht sehen konnte. Corona war alles andere als eine kleine Grippe, dachte sie, gerade diejenigen Hexen, die über 200 oder gar über 300 Jahre alt waren, gehörten schließlich eindeutig zur Risikogruppe. Und dass das Fest oder die Orgie mit dem Beelzebub, wie die Menschen es bezeichneten, niemals ausgesetzt wurde, stimmte auch nicht so ganz.
Damals zur Zeit der Hexenverfolgung hatten sie für viele Jahre schon recht vorsichtig sein müssen. Und als die DDR noch existierte und der Brocken eine einzige Abhöranlage war, kam auch nur bedingt Partystimmung auf. Immer waren es die Menschen gewesen, die ihnen das Fest versaut hatten, dachte sie deprimiert. Immer waren es Machthunger, Engstirnigkeit oder andere Hirngespinste der Menschen, die allen anderen Wesen auf dieser Welt das Leben schwer machten.

War es bei Corona nicht auch so? Hatte das Virus nicht auch mit ihrer Maßlosigkeit zu tun und seine Ausbreitung mit ihrer Profitgier? Bevor Lene aber weiter darüber nachdenken konnte, brachte Carlas Geplapper sie wieder auf andere Gedanken und zurück zum eigentlichen Thema.

„Jedenfalls bin ich froh, dass die Baumärkte neulich wieder geöffnet haben“, erzählte die Freundin, „mir war nämlich mein Besen kaputtgegangen und ich brauchte unbedingt einen neuen. Darum wollte ich dich ja auch fragen, ob ich dich mitnehmen soll. Du weißt doch, ich will mir den einen oder anderen knackigen Teufel aufreißen und da darf ich sowieso nicht zu viel trinken, weil ich sonst beim poppen wieder einschlafe.“

Nur zu gut erinnerte Lene sich noch an die Walpurgisfeier vor fünfzig Jahren, bei der Carla auch rumgetönt hatte, dass sie dem Vorwurf der Orgie endlich einmal gerecht werden wollte. Das Ende vom Lied war dann, dass ein völlig verstörter Jungteufel zu ihr gekommen war und sie um Hilfe gebeten hatte, weil er befürchtete, er habe Carla zu Tode ge... nun ja. Tatsächlich war sie allerdings nur so besoffen, dass sie beim Sex einfach ohnmächtig geworden war und sich am nächsten Morgen an nichts erinnern konnte.

„Wir müssen aber gar nicht mit dem Besen fliegen“, schlug Lene jetzt vor, um die Erinnerungen loszuwerden, „ich hab doch meinen Staubsauger, der ein Navi hat und programmierbar ist. Dann können wir beide was trinken.“ Carla gefiel die Idee und somit war es beschlossen. Walpurgis konnte also kommen.

Wenige Tage später war es endlich soweit. Der schönste Tag des Jahres war gekommen und Lene war extra früh aufgestanden, um sich für die große Party auf dem Brocken so richtig aufzubrezeln. Sie hatte ein neues Kleid an, das sie sich jedes Jahr extra zu Walpurgis kaufte, Haare und Make-up hatten Stunden gedauert, doch jetzt endlich war sie zum Abflug bereit und wartete nur noch auf Carla.

Den Haustürschlüssel hatte sie ihrer schwarzen Katze gegeben, denn immerhin war das da oben eine Orgie, es ging also um Sex und jede Menge Alkohol und sie hatte nicht vor, in den frühen Morgenstunden so nüchtern zu sein, dass sie noch das Schlüsselloch fand oder überhaupt die Haustür. Dazu hatten Hexen ja schließlich ihre Katzen, dass diese an diesem einen Tag im Jahr mal nicht die Diva spielten, sondern sie bei ihrer Rückkehr abpassten und sicher ins Bett geleiteten.

„Ach und was ist, wenn ich vielleicht auch noch weg will?“, fragte die Katze mit deutlich genervtem Unterton. Lene kraulte sie zärtlich unterm Kinn, dann erklärte sie: „Kannst du ja. Du musst eben nur vor mir wieder zuhause sein.“ Einerseits schnurrte die Katze, weil sie die Streicheleinheiten genoss, andererseits blickte sie missmutig drein und grummelte: „Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn ich derart unter Druck gesetzt werde.“ Lene nahm es gelassen, hob sie auf den Arm und meinte nur: „Es liegt ganz bei dir. Du entscheidest, ob du pünktlich zuhause bist und mich reinlässt oder ob du dich von mir für die nächsten drei Monate in eine Kröte verwandeln lässt. Kein Druck. Deine freie Entscheidung.“

Kurz darauf holte sie den Staubsauger aus dem Küchenschrank, programmierte ihn und flog dann vom Balkon aus los erstmal zu Carla und dann weiter in Richtung Brocken. Noch während sie aber in Nordhausen vor Carlas Haus auf die Freundin wartete, fielen ihr etliche Menschen auf, die mit Plakaten und Spruchbändern durch die Innenstadt liefen. „Lockert den Lockdown!“ stand darauf oder „Gebt uns unsere Grundrechte zurück!“ Lene verstand nicht und schüttelte bloß den Kopf. Menschen eben.

„Was haben die denn?“, fragte sie als ihre Freundin endlich auftauchte. „Die wollen sich von Corona eben auch den Spaß nicht verderben lassen“, lautete die lapidare Antwort, „Endlich mal etwas, wo ich mit den Menschen einer Meinung bin. Aber viel wichtiger – Wie findest du mein Kleid?“ In der Tat sah Carla umwerfend aus und das konnte Lene auch neidlos zugeben. Sie selbst musste sich schließlich auch nicht verstecken. Den Jungteufeln würden sich die Hörner geradebiegen, wenn sie sie beide sahen, und den Dämonenjungs würden die Augen rausfallen. Letzteres passierte mitunter ja leider wirklich, denn immer wieder gab es Dämonen, die das Sprichwort mit dem Auge auf jemanden werfen allzu wörtlich nahmen.

Um bloß nicht zu spät zu kommen, düsten sie also schnell los, über die Felder des Vorharzes hinweg und bald über immer dichter werdende Wälder und Hügel, die allmählich zu Bergen wurden. Lene flog extra tief, weil sie etwas von der Natur unter sich sehen wollte. Das hätte sie wohl lieber nicht getan, denn mit einem Mal sah sie ein helles Licht aufblitzen und dann Blaulicht und einen uniformierten Menschen, der sie zu sich heranwinkte.

„Da waren wir wohl etwas schnell unterwegs, junge Dame“, begrüßte er sie mit süffisantem Lächeln, was Lenes Blut sofort kochen ließ. „Ich weiß ja nicht, ob Sie zu schnell unterwegs waren, ich jedenfalls befinde mich über der Straße und da gelten Ihre Geschwindigkeitsbeschränkungen nun mal nicht.“ Der Polizist lächelte weiter und ließ sich nicht beirren. Sie wisse trotzdem, dass sie auch als Hexe vorsichtig sein muss, vor allem, da in der Walpurgisnacht eben einige ältere Hexen immer noch auf alten Reisigbesen unterwegs waren und die dürfe sie schließlich nicht gefährden.

„Wir fliegen zum Brocken, eben um jemanden zu gefährden“, gab Lene selbstbewusst zurück und schenkte dem Beamten nun ihrerseits ein Lächeln, das umgehend sein Herz erweichte. „Nun gut, dann will ich, was das angeht, nichts gesagt haben. Aber dennoch gelten in diesem Jahr wegen des Virus besondere Vorsichtsmaßnahmen und eben auch Reisebeschränkungen. Wenn ich das richtig sehe, dann kommen Sie gerade aus Thüringen und wollen zum Brocken, der aber in Sachsen-Anhalt liegt.“

Lene nickte verunsichert und schaute sich zu Carla um. Die zuckte nur mit den Schultern und war für den Moment auch verstummt. „Sehen Sie, und das geht leider nicht“, fuhr der Polizist unbeirrt fort, „Es wurde nämlich beschlossen, dass in diesem Jahr Hexen, Teufel und Dämonen aus angrenzenden Bundesländern vom Fest ausgenommen sind.“ Lene wollte kaum glauben, was sie da hörte. Vor allem aber waren Bundesländer und Grenzen überhaupt nun mal rein menschliche Erfindungen und sie als Hexen hatten sich noch nie daran halten müssen.

Selbst als mitten durch den Harz noch eine bewachte Grenze verlaufen war, hatten sie sich nicht darum geschert, die Menschen machen lassen, auch wenn sie es selbst für den größten Blödsinn hielten und so hatten sie sich nie in die Albernheiten und Animositäten der Menschen eingemischt. Als sie dem Beamten das sehr deutlich sagten, lachte der nur kurz auf und meinte dann: „Hören Sie, meine Besten, Sie sind hier in Deutschland. Einem der bestorganisierten Länder der Welt. Glauben Sie wirklich, unsere Bürokratie macht vor Hexen halt?“

Er meinte das tatsächlich ernst. Obwohl ihm klar sein musste, dass sie, wenn sie wollten, einfach über ihn hätten hinweg fliegen können und er ihnen nicht mal einen Strafzettel hätte ausstellen können, da ein fliegender Staubsauger nun einmal kein Nummernschild hatte, zog er stur sein Ding durch, richtete sich nach seinen Anweisungen und wollte ihnen allen Ernstes das traditionelle teuflische Treiben der Walpurgisnacht verderben.

Statt ihn jedoch einfach zu ignorieren und einen Umweg zu fliegen, ließ Lene sich noch einmal darauf ein und stellte fest: „Guter Mann, Sie wissen aber schon, dass Hexen unsterblich sind, oder? Folglich können wir auch nicht an Corona erkranken, nehmen euch keinen Platz in einem Intensivbett weg und werden auch nicht am Virus sterben.“

Wieder lächelte der Polizist nur milde und brachte sie damit beinahe zur Weißglut. „Da irren Sie“, sagte er völlig sachlich und der absurden Situation so gar nicht angemessen, „wenn Sie auch unsterblich sind, so können Sie sich dennoch infizieren und erkranken. Genau das ist Herrn Urian nämlich passiert. Er trug beim Einkaufen keinen Mundschutz und zwei Tage später bekam er einen entsetzlichen Husten und dazu Fieber.“

Wieder sahen sich Lene und Carla an, diesmal fand keine von ihnen ihre Stimme wieder. Dafür fuhr der Polizist fort: „Daher war es auch niemand anders als Herr Urian höchstpersönlich, der diese Beschränkungen angeordnet hat. Er macht sich große Sorgen um seine Großmutter, die nun mal in einem Alter ist, wo sie eindeutig zur Risikogruppe gehört und daher bat er alle Wesen der Finsternis wie auch die Menschen um Solidarität.“

Lene und Carla blieben sprachlos, mussten nun wohl oder übel einsehen, dass es leider kein Scherz war und dass sie die Orgie wohl tatsächlich aufs nächste Jahr verschieben mussten. „Scheiße!“, rutschte es Carla heraus, doch dann stimmte sie Lene zu, sich auf den Heimweg zu machen und stattdessen eine Pizza zu holen und „Tanz der Vampire“ auf Netflix zu gucken. Schon wenig später kamen sie betrübt zuhause an und ihre Stimmung ging sogar noch weiter in den Keller als sie feststellten, dass die schwarze Katze natürlich noch nicht wieder zurück war und sie deshalb mit ihrer Pizza und dem Staubsauger vor der verschlossenen Haustür hocken mussten. Manchmal war alles doch wirklich wie verhext.

Weitere Videos gibt es auf CrYzZ Storys auf Youtube.


 

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